Befreite Stadt Lyman "Wie die Mäuse in ihren Löchern"
Anfang Oktober hat die ukrainische Armee die umkämpfte Kleinstadt Lyman wieder unter ihre Kontrolle bringen können. Ohne Gas, Strom und fließendes Wasser versuchen die verbliebenen Einwohner nun, weiterzuleben.
Dutzende Polizisten einer Spezialeinheit haben sich in der Mittagssonne versammelt. Sie stehen bewaffnet und in Flecktarn vor dem Gebäude der Stadtverwaltung in Lyman. Blaues Klebeband an Helmen und Oberarmen signalisiert die Zugehörigkeit zu den ukrainischen Kampfeinheiten. Es ist auch eine Demonstration der Stärke - seit etwa einer Woche haben die Ukrainer wieder die Kontrolle in Lyman. Und an diesem Tag erhalten die Männer Auszeichnungen für ihren Einsatz im Krieg.
Medwed - was übersetzt Bär bedeutet - ist ein kräftiger Mann mit grau meliertem Bart. Auch er hat mitgekämpft bei der Rückeroberung der Kleinstadt im Donbass. "Die Befreiung von Lyman war sehr schwierig", sagt er. "In den Nachrichten sieht das alles einfach aus. Aber eigentlich hat die Brigade, die die Operation, die Einkesselung durchgeführt hat, ziemlich hohe Verluste erlitten. Es waren sehr schwere Kämpfe."
Und die Spuren dieser Kämpfe sind in Lyman allgegenwärtig. Scherben geborstener Fensterscheiben säumen die Straßen, große Löcher klaffen in Dächern und Wänden, zurückgelassene Hunde streunen hungrig umher. Die meisten Einwohner sind vor langer Zeit geflohen. Mittlerweile sind die Kämpfe weitergezogen - zu hören sind sie aber immer noch. Doch daran haben sich die Menschen in Lyman gewöhnt.
"Zeit der Besatzung war schrecklich"
Rentnerin Ljudmila Romenskaja kann endlich wieder ihren Keller verlassen. Sie nutzt die Gelegenheit und schaut nach der Wohnung ihrer Tochter. Sie ist vor den Kämpfen nach Deutschland geflohen. Die Wohnung ist kaum beschädigt. Nur die Fensterscheiben sind zerstört.
Romenskaja sprüht etwas Wasser auf die Topfpflanzen ihrer Tochter. "Das ist für die Seele", sagt sie. "Wir entspannen uns, wir erfreuen und an den Blumen, an allem, an Bäumen. Meine Tochter liebt Blumen so sehr. Ich kann das nicht beschreiben. Das bedeutet uns alles, es bedeutet Leben."
Die Zeit der russischen Besatzung sei schrecklich gewesen, sagt die 61-Jährige. Am Wochenende gaben ukrainische Behörden bekannt, Hunderte Gräber und ein Massengrab in der Stadt gefunden zu haben. Offenbar seien dort sowohl Zivilisten als auch Soldaten begraben worden. Ljudmila Romenskaja erinnert sich:
Am Anfang haben wir die Menschen direkt neben den Häusern begraben. Und als dann die russische Armee kam, haben sie die Leichen weggebracht und auf dem Friedhof begraben. Wenn die Person bekannt war, haben sie den Namen aufgeschrieben. Wenn nicht, nur eine Nummer und ob Mann oder Frau.
Die meisten Häuser sind schwer beschädigt
Wie viele Menschen bei den Kämpfen getötet wurden, ist noch nicht bekannt. Romenskaja hat überlebt und hofft, dass die russischen Truppen nicht wieder zurückkommen nach Lyman. "Ich glaube, dass sie auch mit Phosphor geschossen haben. Das sah aus wie Girlanden an einem Weihnachtsbaum, diese Lichter, besonders nachts", sagt sie. "Und Granaten. Wir haben das Aufleuchten von Granaten gesehen. Wir konnten nicht aus dem Haus gehen. Fünf Minuten und wieder zurück ins Haus. Das Haus ist unser Schutz."
Ein zerstörtes Wohnhaus in Lyman.
Doch heute sind die allermeisten Häuser in Lyman schwer beschädigt. Etwa die Hälfte benötige eine Grundsanierung, sagt der Bürgermeister. Aber dafür fehlt vielen das Geld. Es sind vor allem Rentner, die zurückgeblieben sind. So wie Wolodja und Nadeschda. Sie sammeln die Zweige einer zerborstenen Fichte am Straßenrand.
"Wir sammeln Holz. Wer weiß schon, ob es bald wieder Strom und Heizung gibt", sagen sie. "Wir ziehen auf unsere Datscha und überwintern dort. Jetzt sammeln wir Holz, um zu heizen."
"Wir bekommen immer nur Nudeln"
Heizung, Strom, Gas und fließendes Wasser - all das gibt es nicht mehr in Lyman. Etwa 20.000 Menschen lebten einmal hier. Im Krieg ist die Stadt vor allem wegen ihrer Bahnverbindung wichtig. Sie sichert den Truppen die Versorgung. Hinter den Bahnlinien hackt Maksim Surschan Holz. Seine Mutter muss - wie alle hier - auf offenem Feuer vor dem zerschossenen grauen Wohnblock kochen.
"Ich will Kartoffeln, Kohl, Karotten. Alles, was man für eine Borschtsch braucht", sagt er. "Aber wir bekommen immer nur Nudeln. Das ist schlecht für meinen Magen und ich kann mich nirgendwo behandeln lassen. Es gibt keine Geschäfte, keine Arbeit, keinen Strom, kein Haus. Nur einen Keller."
Er führt die Stufen hinunter. Seine Wohnung im fünften Stock ist vollständig ausgebrannt. Ein paar Schuhe und Jacken konnte er retten. Seitdem lebt er ohne Licht in den engen Räumen. "Wenn ich nur die Möglichkeit hätte, die Gasflasche aufzufüllen. Wenn es Beschuss gibt, sitzen wir hier und kochen mit dem Gaskocher. Im ganzen Gebäude gibt es kein Gas mehr. Wir sitzen hier wie die Mäuse in ihren Löchern."
Die Ukraine hat die Kontrolle über Lyman zurückerlangt. Jetzt suchen Sicherheitsdienste nach Kollaborateuren. Denn davon habe es einige gegeben, sagen Soldaten und Einwohner.