Center for Civil Liberties zu Nobelpreis "Wir dokumentieren Schmerz"
Das ukrainische Center for Civil Liberties sieht die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis als Ehrung aller Ukrainer, die für die Freiheit kämpfen. Sie trifft nicht bei allen im Land auf Freude - auch nicht bei führenden Politikern.
Das ganze Team war gekommen zum ersten öffentlichen Auftritt nach der Bekanntgabe, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter applaudierten - alle gekleidet in weißen Kapuzenpullovern mit der Aufschrift Center for Civil Liberties. Die Direktorin der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten ukrainischen Menschenrechtsorganisation, Oleksandra Matwijtschuk, hingegen trug ein blaues Kleid.
Sie betonte zu Beginn: "Man sagt, dass das ukrainische Volk diese Auszeichnung hätte erhalten sollen. Und genau das ist passiert, denn die größte Stärke unserer Organisation ist, dass Freiwillige die Hauptrolle spielen. Der Friedensnobelpreis wird allen Menschen in der Ukraine verliehen, die mit allen ihren Sinnen für die Freiheit kämpfen."
2014 Menschenrechtsverletzungen dokumentiert
Matwijtschuk forderte erneut eine grundlegende Reform internationaler Organisationen wie der UN, die die Menschen besser schützen müssten, und blickte auf den Beginn russischer Besatzung der Ukraine im Jahr 2014 zurück. Als erste schickte die regierungsunabhängige Organisation damals mobile Teams in die Regionen um Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine und auf die Krim, um russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren.
Seit dem Beginn der russischen Großinvasion im Februar dieses Jahres gründete sie das "Tribunal für Putin", das mittlerweile mehr als 21.000 Fälle von Kriegsverbrechen dokumentiert hat.
Dass sie den Friedensnobelpreis erhalten würden, erfuhr Matwijtschuk auf einer Dienstreise in Polen, die sie gemeinsam mit der Geschäftsführerin Oleksandra Romantzowa machte. In Warschau stiegen sie gerade in den Zug zurück nach Kiew, als das Telefon klingelte. 20 Minuten vor der offiziellen Bekanntgabe, erzählt Romanzowa.
"Erst dachte ich, dass mein Englisch nicht gut genug ist und ich nicht verstehe, aber sie wiederholte deutlich, dass sie die Vorsitzende des Nobelkomitees ist und dass unsere Organisation zusammen mit anderen den Friedensnobelpreis bekommt", so Romanzowa. "Und dass sie sehr hoffen, uns in Oslo zu sehen, denn die Nobelpreise werden ja nicht in Stockholm verliehen, sondern in Oslo. Wir freuen uns, im Dezember dabei zu sei."
Selenskyj gratulierte bisher nicht
Das ukrainische Center for Civil Liberties erhält die Auszeichnung gemeinsam mit dem inhaftierten belarusischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Dass die ukrainische Organisation den Friedensnobelpreis gemeinsam mit Organisationen aus dem Angreiferland Russland und dessen Verbündeten Belarus erhält, stößt in der Ukraine auf Kritik.
Präsident Selenskyj habe ihnen bisher nicht gratuliert, so Matwijtschuk. Schon nach der Bekanntgabe der Auszeichnung hatte Selenskyj-Berater Mykhailo Podoljak unter anderem getwittert, das norwegische Nobelpreiskomitee habe ein seltsames Verständnis von Frieden, wenn Vertreter zweier Länder, die ein drittes angegriffen hätten gemeinsam den Friedensnobelpreis bekämen. Weder die russische noch die belarusische Organisation hätten Widerstand gegen den Krieg gegen die Ukraine organisieren können.
Probleme lösen, die keine nationalen Grenzen haben
Der gemeinsame Friedensnobelpreis sei keinesfalls ein altes Narrativ über brüderliche Völker der Sowjetunion, kommentierte Matwijtschuk diese Haltung. "Dies ist eine Geschichte über den Widerstand gegen ein gemeinsames Übel, es ist eine Geschichte darüber, wie Menschenrechtsaktivisten in verschiedenen Ländern horizontale Verbindungen untereinander aufbauen, um Probleme zu lösen, die keine nationalen Grenzen haben", so Matwijtschuk.
Die Ukraine werde von Belarus bedroht, weil belarusische Menschenrechtsorganisationen wie Vjasna und der zum zweiten Mal inhaftierte Ales Bjaljazki nicht gehört worden seien, so Matwijtschuk. Dessen 1996 gegründete Organisation habe Wahlen überwacht und der ganzen Welt damit gezeigt, dass solche unter Machthaber Lukaschenko nicht stattfinden würden. Die Weltgemeinschaft hätte früher darauf achten müssen. Heute gäbe es laut Vjasna mehr als 1300 politische Gefangene in Belarus; Lukaschenko sei "Putins Assistent".
Anerkennung für russische Organisation Memorial
Matwijtschuk drückte erneut auch ihre große Wertschätzung für die russische Menschenrechtsorganisation Memorial aus. Diese hätten 1987 - noch zu Sowjetzeiten - eine Organisation gegründet, um all die Repressionen und Gräueltaten der Stalinzeit sichtbar zu machen. Damit hätten sie das getan, was die Sowjetunion am meisten gefürchtet habe.
Dass der Kampf um Menschenrechte und die demokratische Transformation ihres und anderer Länder Aufmerksamkeit bekomme, freut Matwijtschuk, denn dieser Kampf sei noch lange nicht zu Ende. "Wir dokumentieren Schmerz und manchmal kommt es mir so vor, als würde uns dieser Schmerz einfach verbrennen."