Russlands Krieg gegen die Ukraine Wann beginnt Kiews Gegenoffensive?
Seit Wochen wird gerätselt: Wann beginnt die Ukraine ihre Gegenoffensive? Die Militärexperten Markus Reisner, Nico Lange und Burkhard Meißner geben ihre Einschätzung.
Welche Anzeichen gibt es für eine bevorstehende Offensive der ukrainischen Armee?
Die drei Experten sind sich einig, dass die Ukraine mit den Vorbereitungen für eine Gegenoffensive bereits begonnen hat. Das Wetter und die Bodenbeschaffenheit seien wichtige Faktoren, denn die Schlammsaison dürfe in Bezug auf den Beginn der Offensive nicht unterschätzt werden.
"Das ist wichtig, da gerade die westlichen Panzer, wie zum Beispiel die 'Leoparden' mit über 60 Tonnen wesentlich leichter in so einem schwierigen Gelände einsinken können als die von den Russen verwendeten ehemaligen sowjetischen Panzer", so Bundesheeroffizier Markus Reisner.
Markus Reisner ist Historiker, Offizier des österreichischen Bundesheeres und Kommandant der Garde.
Ein weiteres Indiz für eine bevorstehende Offensive seien die zunehmende Angriffe auf Nachschubversorgungswege der russischen Streitkräfte, so die Experten - zum Beispiel auf Tank- und Munitionslager. Man könne außerdem gut erkennen, "dass die Ukraine versucht, Fliegerabwehrsysteme in Frontnähe zu verschieben", sagt Reisner. Die Ukraine tue dies, um sogenannte Bereitstellungsräume zu sichern, in die dann Landstreitkräfte zum Beispiel mit Panzern vorrücken könnten.
Burkhard Meißner vom German Institut for Defence and Strategic Studies (GIDS) sieht in der Aufstellung zusätzlicher Brigaden ebenfalls ein starkes Indiz: "Wir reden hier von 40.000 bis 60.000 Mann, die zum großen Teil im Westen im Umgang mit großen Waffen geschult worden sind - vor allem für die offensive Bewegungskriegsführung. Und die wird man wahrscheinlich für eine solche Offensive auch einsetzen wollen."
Prof. Dr. Burkhard Meißner ist Oberst der Reserve, Althistoriker und Leiter des Forschungsbereichs Strategien, Konflikte und Dynamiken in vernetzen Systemen am German Institut for Defence and Strategic Studies (GIDS).
Obwohl relativ neu, sieht Reisner diese Brigaden jedoch "bereits in einem schwächeren Zustand" und verweist dabei auf US-amerikanische Dokumente, die an die Öffentlichkeit gelangt sind - die sogenannten Pentagon Leaks.
Welche Szenarien gibt es für eine Offensive?
Laut Reisner eignen sich drei Gebiete in der Ukraine für einen möglichen Einsatz: "der Südraum, der Zentralraum und der Nordraum. Und hier wird die Ukraine so lange wie möglich verschleiern, um den Russen nicht die Möglichkeit zu geben, ihnen an dieser Stelle etwas entgegenzusetzen".
Auch Meißner rechnet damit, dass die Ukraine zunächst auf Verschleierung setzen werde. "Wir können nur einordnen, wie ähnliche Offensiven in der Vergangenheit abgelaufen sind", so Meißner. "Und da kann man beobachten, dass man in der Regel einen Schein- oder einen Testangriff woanders macht - oder auch gleich mehrere. Dass man also an einer langen Front, und diese ist extrem lang - fast 1500 Kilometer - an verschiedenen Stellen zunächst einmal Scheinangriffe durchführt, um dann an anderer Stelle mit sehr viel mehr Kraft durchzustoßen."
Wie kann man das militärische Kräfteverhältnis einschätzen?
Blickt man nur auf die Zahlen, so sind die russischen Streitkräfte überlegen, sagen alle drei Experten. Aber das Zusammenrechnen von Zahlen alleine sei nicht aussagekräftig. "Militärische Stärke ergibt sich nicht allein aus numerischer Überlegenheit", unterstreicht Meißner.
Die Ukraine habe durch taktisches Geschick und den Einsatz unterschiedlicher Waffensysteme bereits bewiesen, dass ihre Soldaten in der Lage sind, erfolgreich gegen russische Truppen zu kämpfen. Daher könne die Ukraine mit "einem gewissen Optimismus rangehen", sagt auch Militärexperte Nico Lange.
Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative an der Münchner Sicherheitskonferenz. Zuvor war er Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium für Verteidigung und stellvertretender Bundesgeschäftsführer der CDU Deutschlands.
Reisner erläutert, dass der Krieg auf beiden Seiten zu einem Krieg der Reservisten geworden sei: "Wir haben auf beiden Seiten Soldaten, die man beschreiben kann als den 40-jährigen Familienvater, der an die Front geschickt worden ist, mit einer mehr oder weniger guten Ausbildung. Und hier gibt es eine gewisse Parität, wobei die Moral - so scheint es - auf der ukrainischen Seite wesentlich höher ist als auf der russischen Seite."
Die Ukraine hat erklärt, alle von Russland besetzten Gebiete zurückerobern zu wollen. Wie realistisch ist es, dass das mit dieser Offensive gelingt?
"Das wäre von einem Feldzug nun wirklich sehr, sehr viel verlangt", sagt Meißner.
Auch Nico Lange kann zum aktuellen Zeitpunkt nicht prognostizieren, welche Gebiete die Ukraine in welchem Zeitraum zurückerobern kann. Dass sie in der Lage seien, besetzte Gebiete zurückerobern, hätten die ukrainischen Soldaten bereits gezeigt: "Für mich ist klar: Russland ist schlagbar."
Könnte es vermehrt ukrainische Angriffe auf Ziele in Russland geben?
Lange betont, dass es für die Ukraine "völkerrechtlich völlig legitim ist, militärische Ziele in Russland anzugreifen. Und wir haben ja auch in der Vergangenheit schon Angriffe gesehen auf Luftwaffenbasen, auf Tanklager und auf andere Einrichtungen auf russischem Gebiet. Insofern halte ich das für möglich, dass auch weiterhin solche Angriffe passieren."
Meißner verweist auf die Bedeutung von Eisenbahnlinien für die Versorgung russischer Streitkräfte: "Das wiederum bedeutet, dass die Ukraine natürlich alles tun muss, diese Eisenbahnverbindungen und die rückwärtigen Eisenbahnlinien zu zerstören. Das tut sie sehr häufig. Und einige dieser Eisenbahnlinien treffen im Großraum Belgorod oder Kursk an die Grenze."
Daher erwartet Meißner Angriffe eher im Grenzgebiet und "nicht etwa tief in Russland. Das wäre auch Munitionsverschwendung."
Was müsste die Ukraine mindestens erreichen, um die Offensive als Erfolg bezeichnen zu können?
"Alle Erfolge muss man immer messen können", so Reisner. Der Österreicher analysiert, dass "es ein eindeutiger Erfolg wäre, wenn es der Ukraine gelingen würde, die russischen Kräfte in den besetzen Gebieten zu teilen. Also in einem Bereich im Nordosten - Donbass, Kupjansk und darüber hinaus - und im Süden: Cherson, Saporischschja und die Krim. Weil die Russen dann ein riesiges Dilemma hätten: Sie würden die Landverbindung verlieren und hätten nur noch die Brückenverbindung über die Straße von Kertsch, die schon einmal angegriffen worden ist, und es würde dadurch zu extremen Herausforderungen kommen, diese Kräfte versorgen zu können."
Für Meißner könne der Erfolg darin liegen, die russische Seite zu Verhandlungen zu bewegen. Er unterstreicht jedoch, dass die "Ukraine an ihren eigenen Wünschen, die sie zum Teil auch schon realisiert hat, gemessen werden muss und gemessen werden will. Und das bedeutet, sie wird also mehr Territorium wieder zurückerobern wollen, so wie es in den vergangenen Monaten ja auch schon geschehen ist."
Der Ukraine müsse es darum gehen, "dass dieser relativ starre Verlauf und diese Abnutzung der letzten Monate in eine beweglichere Kriegsführung kommt", sagt Lange. "Und wohin genau diese Bewegung geht, das ist bisher offen. Aber in der beweglichen Kriegsführung ist vieles möglich, da die Topo- und Geographie der Ukraine wenig natürliche Grenzen bietet. Wenn die Frontlinie einmal durchbrochen ist, dann gibt es die Möglichkeit, sehr große Gebiete sehr schnell zurückzuerobern."