Krieg gegen die Ukraine Tiefer Frust über Russlands Vormarsch
Stück für Stück dringt Russlands Armee weiter in den Osten der Ukraine vor. Die Unzufriedenheit über Präsident Selenskyj wächst. Kritiker werfen ihm vor, die Menschen in falscher Sicherheit zu wiegen.
Der Krieg scheint in diesen Tagen von Kiew weit weg. Sonne und Temperaturen von über 20 Grad bringen die Menschen auf die Straße. Sie schlendern durch Parks, schlecken Eis und sonnen sich, während einige hundert Kilometer weiter östlich die Artillerie donnert - zwei Realitäten in einem Land.
Aber ganz ausgelassen zu sein, kommt für die 19-jährige Margarita aus Kiew sowieso nicht in Frage. Man könne sich zwar ein bisschen entspannen, aber jederzeit könne Alarm kommen und man müsse seine Pläne verschieben, wenn es wieder Luftangriffe gebe. "Die Situation an der Front ist beschissen", sagt sie. "Ich bin absolut unzufrieden mit denen, die dafür verantwortlich sind. Niemand hilft unseren Jungs da."
"Fleischwolf-Taktik" der Russen
Die Frustration ist groß. Russland ist in den vergangenen Tagen im Osten des Landes weiter vorgerückt. Es ist ein langsamer Vormarsch, erkämpft durch massiven Beschuss und mit hohen Verlusten. "Fleischwolf-Taktik" nennt man das sarkastisch in der Ukraine. Ukrainischen Angaben zufolge werden derzeit bei den Angriffen jeden Tag mehr als 1.000 russische Soldaten getötet oder verwundet.
Dennoch scheint diese Strategie aufzugehen. Die russische Armee konnte immer mehr Dörfer in der Region Donezk erobern und die Ukrainer immer öfter zum taktischen Rückzug zwingen. Der ukrainische Armeechef Oleksandr Syrskyj macht aus der schwierigen Lage keinen Hehl. Die Situation an der Front hat sich verschlechtert, schrieb er am Wochenende im Messengerdienst Telegram. Russland habe einen bedeutenden Vorteil an Kräften und Mitteln, so Syrskyj, und taktische Erfolge errungen.
Warnung, Russland nicht zu unterschätzen
Ob diese auch dazu führen, dass Russland rasch tiefer in die Region vorstoßen kann, steht auf einem anderen Blatt. Militärexperten vom amerikanischen "Institute for the Study of War" (ISW) bezweifeln, dass die russische Armee derzeit dazu in der Lage ist.
Roman Pogorilyi warnt aber davor, die russische Armee zu unterschätzen. Er ist einer der Gründer von "Deep State Map", einer unabhängigen ukrainischen Onlineseite, die die Militärbewegungen genau analysiert. "Sie drängen schon jetzt immer weiter nach vorn, immer weiter", sagt er. Die ukrainischen Soldaten würden aber dafür sorgen, dass sie nur langsam vorrücken würden. Immer wieder würden sie gestoppt.
Kopfschütteln über russische Erfolge - und Kritik an Selenskyj
Dennoch gibt es in der Ukraine Ärger und Kopfschütteln darüber, dass Russland gleich mehrere Ortschaften in kurzer Zeit unter seine Kontrolle bringen konnte. So etwa beim Journalisten und Selenskyj-Kritiker Jurij Butusow. Er wirft der Armeeführung vor, lange negative Nachrichten vom Tisch gewischt und die Menschen in falscher Sicherheit gewiegt zu haben.
Er sagt, im Land würden Kommandeure für wahrhaftige Berichte schnell entlassen. Also würden einige Kommandeure erst gar nicht berichten. "Es gab sehr viele optimistische Berichte, die der Lage nicht entsprechen", sagt er. Man müsse klären, was der Grund dafür ist - ob es an Unwissenheit liege, Untergebene Dinge nicht melden würden, oder ob sie falsche Schlussfolgerungen ziehen würden. "Aber es ist ja bekannt, wer die Militärhierarchie bildet."
Die Führung sei für strategische Fehlplanungen verantwortlich, die die Truppen nicht immer ausbügeln könnten. Das zeige sich nun auf dem Schlachtfeld, so Butusow - eine Kritik an der Armeeführung und auch an Präsident Wolodymyr Selenskyj, der auch der Oberbefehlshaber des Landes ist.
Roman Pogorilyi von "Deep State Map" weicht bei der Frage nach Fehlentscheidungen des Militärs aus. "Fehler" sei ein großes Wort, sagt er. Man müsse verstehen, dass viel zu tun sei. Die Ukraine brauche mehr Waffen und Ressourcen. "Wir sehen, in welchem Umfang der Feind ausgerüstet ist. Um das zu zerstören, brauchen wir Feuerkraft, um Flugzeuge abzuschießen. Luftverteidigung, um unser Land vor Beschuss zu schützen." Die Situation verändere sich, die Russen drückten weiter nach vorn.
Neue Waffenlieferungen angekündigt
Die Nervosität in der Ukraine steigt, und die Rufe nach Hilfe aus dem Ausland werden immer lauter. Diese Rufe würden gehört, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montag bei einem Besuch in Kiew. Alle Verbündeten würden prüfen, was sie noch tun können, er erwarte bald neue Ankündigungen. "Wir arbeiten intensiv daran, die dringenden Bedürfnisse der Ukraine zu stillen. Unsere Verantwortung ist es, dass Ankündigungen in die Tat umgesetzt werden und Waffen und Munitionslieferungen so schnell wie möglich passieren."
Tatsächlich haben sich in den vergangenen Tagen immer mehr Länder bereit erklärt, noch mehr Waffen an die Ukraine zu liefern. Deutschland hatte beispielsweise am Dienstag unter anderem versprochen, weitere zehn Marder-Schützenpanzer zu liefern. Und auch Lettland kündigte ein neues Hilfspaket an, mit dem auch die Luftverteidigung gestärkt werden soll. Die Nachrichten der vergangenen Tage aus der Ukraine zeigen, wie sehr die Zeit drängt.