Krieg gegen die Ukraine Waffenstillstand war nicht kurz vor dem Abschluss
Immer wieder wird behauptet, dass Russland und die Ukraine bereits kurz nach der russischen Invasion einen Waffenstillstand ausgehandelt hätten. Gespräche darüber gab es tatsächlich - jedoch keine Einigung.
"2 Jahre Krieg, 2 Jahre Leid, 2 Jahre Zerstörung. Das hätte alles verhindert werden können!" - Beiträge wie der des Mitglieds der Partei "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW), Frederick Broßart, haben derzeit wieder Konjunktur. Die These: Es habe einen bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine gegeben - und zwar bereits im April 2022, also wenige Wochen nach dem Einmarsch russischer Truppen. Der Westen habe jedoch verhindert, dass dieser Waffenstillstand zustande gekommen sei.
Nicht nur Teilnehmer der ukrainischen Verhandlungsdelegation haben dieser Version bereits längst widersprochen, auch Experten weisen das aus mehreren Gründen zurück. "Der entscheidende Punkt ist, dass es zwar Verhandlungsgespräche zwischen Russland und der Ukraine gab. Ein fertig verhandeltes Abkommen gab es aber nie", sagt Nico Lange, Ukraine- und Russlandexperte bei der Münchener Sicherheitskonferenz. Denn anders als von Russland und prorussischen Stimmen oftmals behauptet, seien die beiden Länder bei strittigen Punkten noch weit voneinander entfernt gewesen.
Verhandlungen bereits kurz nach russischer Invasion
Erste Verhandlungen zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation fanden bereits am 28. Februar 2022 statt, also nur wenige Tage nach dem russischen Großangriff. Damals verlangte Russland einem Artikel des Wall Street Journals zufolge die bedingungslose Kapitulation der Ukraine. Zudem sollte unter anderem die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj abgesetzt und Russisch wieder als Amtssprache eingeführt werden. Für die ukrainische Delegation kam das nicht infrage. In den darauffolgenden Tagen wurde vor allem über die Einrichtung ziviler Korridore verhandelt, um die Evakuierung von Zivilisten zu ermöglichen.
Mitte März wurden die Verhandlungen zwischen den beiden Delegationen über einen möglichen Friedensvertrag wieder intensiviert, mit der Türkei als Vermittler. Am 29. März kam es in Istanbul zu direkten Verhandlungen, bei denen konkretere Vorstellungen von den beiden Delegationen für einen möglichen Waffenstillstand ausgearbeitet wurden.
So sollte die Ukraine eine verbindliche Neutralitätserklärung unterzeichnen und damit jegliche Bestrebungen eines NATO-Beitritts aufgeben, wie aus einem Dokument, dass der "Welt" vorliegt, hervorgeht. Demnach beinhaltete das Dokument unter anderem den Unterpunkt, dass die Ukraine auf den Erhalt, die Produktion und den Erwerb von Atomwaffen verzichte und auch keine ausländischen Waffen und Truppen im Land erlauben dürfe.
Die ukrainischen Unterhändler zeigten sich dem Wall Street Journal nach zudem bereit, die Frage nach der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim zumindest einzufrieren.
Russland wollte Ukraine quasi wehrlos machen
In anderen Punkten waren die beiden Delegationen jedoch immer noch weit voneinander entfernt. So habe es keine Einigung darüber gegeben, wie die russisch-ukrainischen Grenzen mit Blick auf die Ostukraine aussehen sollen. Zudem forderte die russische Delegation eine dramatische Verminderung der ukrainischen Streitkräfte und Militärgeräte.
Das ging aus einem Entwurf, den Russlands Wladimir Putin im vergangenen Sommer einer Delegation afrikanischer Regierungen als vermeintlichen Vertragsentwurf flüchtig den Fernsehkameras präsentierte, hervor. So wollte Moskau unter anderem, dass die ukrainische Armee auf 85.000 Soldaten beschränkt wird und nur noch Waffen mit geringer Reichweite besitzen darf.
"Im Grunde wollte Russland die Ukraine zur Kapitulation drängen", sagt Lange. "Hätte die Ukraine das gemacht, was in diesem russischen Entwurf steht - das war ja kein geeinter Entwurf - dann wäre sie dem nächsten russischen Angriff schutzlos ausgeliefert gewesen."
Der Entwurf, den Putin in die Kamera gehalten hat, war zudem auf den 15. April datiert. Die letzte Verhandlungsrunde war jedoch die in Istanbul am 29. März. "Ein fertig verhandeltes Abkommen, dem beide Seiten zugestimmt hätten, gab es nach dem letzten Treffen in Istanbul nicht", sagt Lange. Zwar blieben die Delegationen in Kontakt, eine weitere Verhandlungsrunde gab es danach jedoch nicht mehr.
Gräueltaten von Butscha kamen ans Licht
Und das hatte vor allem einen Grund: die Gräueltaten von Butscha, die die russische Armee im Kiewer Vorort verübt hatten und die Anfang April ans Licht kamen. Mehr als 450 Zivilisten hatten die russischen Besatzer innerhalb kurzer Zeit getötet. Für die ukrainische Regierung waren weitere Verhandlungen ab dem Zeitpunkt ausgeschlossen, es sei denn, Russland hätte seine Truppen vollständig vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine abgezogen.
"Russland hatte zu dem Zeitpunkt noch gedacht, sie stehen vor Kiew, sie gewinnen und sie können der Ukraine jetzt alles diktieren", so Lange. "Das wäre auch keine Grundlage gewesen für einen Frieden."
Auch militärisch hatte sich die Situation damals zugunsten der Ukraine verändert. Die Gräueltaten von Butscha wurden auch deshalb bekannt, weil die russischen Truppen sich zurückziehen mussten. Putin versuchte im Nachhinein, diesen Abzug als Entgegenkommen umzudeuten, wofür es jedoch keinerlei Anhaltspunkte gibt.
Streitpunkt Sicherheitsgarantien
Ein ebenfalls wesentlicher Streitpunkt in den Verhandlungen über einen Waffenstillstand waren Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Denn durch die geforderte Neutralität und die Beschneidung der ukrainischen Armee wäre diese gegenüber einem erneuten russischen Angriff quasi hilflos gewesen. Zwar wollte Russland den Dokumenten zufolge zusichern, die Ukraine nicht noch einmal anzugreifen. Allerdings hatte Russland das auch 1994 mit dem sogenannten Budapester Memorandum versprochen und später nicht eingehalten.
Deshalb gab es in den Verhandlungen die Idee, dass ein mögliches Abkommen zwischen Russland und der Ukraine von anderen Staaten garantiert werden sollte. Genannt werden die USA, Großbritannien, China, Frankreich und Russland, also die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Diese sollten der Ukraine umfassende Sicherheitsgarantien aussprechen, um die Neutralität der Ukraine zu verteidigen, falls der Vertrag verletzt werden würde. Dieser Plan hatte jedoch mehrere Haken.
Zum einen forderte die russische Delegation, dass im Angriffsfall alle Garantiestaaten zur Aktivierung des Beistandsmechanismus zustimmen müssen - somit auch Russland selbst. Russland hätte dadurch diese Beistandsklausel verhindern können, wodurch die Ukraine quasi machtlos gewesen wäre bei einem Angriff. "Bei einem russischen Angriff hätte Russland dann die Sicherheitsgarantien ablehnen können, das ist natürlich Quatsch", so Lange.
Hinzu kommt, dass die westlichen Länder, also Frankreich, die USA und Großbritannien, diesen Sicherheitsgarantien vermutlich niemals zugestimmt hätten, sagt Lange. "Diese Staaten sind ja eben nicht dazu bereit, zum Beispiel mit eigenen Streitkräften für die Ukraine in der Ukraine zu kämpfen." Auf verbindliche Sicherheitsgarantien hätten sie sich daher nicht eingelassen.
"Täter-Opfer-Umkehr"
Insgesamt hält Lange die ganzen Diskussionen um die Verhandlungen über einen Waffenstillstand für überzogen. "Hätte die Ukraine diesem russischen Entwurf zugestimmt, wäre sie dem nächsten russischen Angriff schutzlos ausgeliefert gewesen." Nur weil die Ukraine gesprächsbereit gewesen sei, hieße das nicht, dass sie die Positionen der anderen Seite auch akzeptiert hätte.
Es sei ein Teil russischer Propaganda, diese ohnehin schon länger bekannten Einzelheiten immer wieder aufzuwärmen, um eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Immer wieder behaupten der Kreml und prorussische Kanäle, dass die Ukraine und der Westen ein Abkommen verhindert hätten. "Das Perfide daran ist, dass aus dieser Geschichte die Erzählung gemacht wird, dass die Ukraine und der Westen schuld am Krieg seien, weil es ja einen Waffenstillstand hätte geben können", so Lange. "Und das ist eine ganz zynische Argumentation, denn die Verantwortung für den Krieg hat allein Putin."