Debatte in der Ukraine Neue Straßen statt neuer Drohnen?
Müssen Straßen saniert werden, wenn jeden Tag Soldaten sterben? Darüber wird in der Ukraine erbittert gestritten. Kritiker kommunaler Instandsetzungen sprechen schon von "Blutasphalt".
In der Gagarinstraße in Tscherkassy rollen die Baumaschinen. Fahrbahn und Fußweg werden in einem Wohnviertel erneuert. Die mehr als fünf Kilometer lange Straße ist eine wichtige Verkehrsader im Norden der Stadt. Mehrere Buslinien fahren hier entlang.
Iwan Podolian fehlt aber jedes Verständnis für die Bauarbeiten. "Diese verdammten Straßen", sagt er wütend. "Menschen sterben. Wir könnten sie unterstützen und der Ukraine zum Sieg verhelfen, aber stattdessen bauen wir Straßen."
Podolian ist Aktivist. Seit Wochen spricht er regelmäßig auf Demonstrationen. Ihm und den anderen Demonstrantinnen und Demonstranten geht es um die kommunalen Budgets von Tscherkassy. Statt Geld in Straßen zu stecken, sollten momentan alle verfügbaren Mittel in die Landesverteidigung fließen, fordern sie.
"Blutiger Asphalt", der Menschenleben kostet?
"Blutiger Asphalt", so nennt Podolian die sanierten Straßen. Er ist sich sicher: Jede ukrainische Hrywnja, die dafür und nicht für die militärische Ausrüstung ausgegeben wird, kostet Menschenleben.
In Tscherkassy, einer Stadt mit etwa 270.000 Einwohnern, würden mehrere Millionen Euro für den Bau von Straßen bezahlt, glaubt der Aktivist. "Wenn man zwischen der Straße und der Rettung von Soldatenleben wählen muss, dann sollte natürlich der Sieg der Ukraine und das Leben unserer Kämpfer Priorität haben."
Podolian leitet das Städtische Institut Tscherkassy, eine NGO, die sich für die Entwicklung der Stadt einsetzt. Vor der Invasion im Februar 2022 gab es hier Workshops, in denen es um die Arbeit der kommunalen Verwaltung ging.
Podolian und seine Mitstreiter wollten den Bürgern erklären, wie sie sich mehr in die Politik einmischen können. Jetzt werden hier Drohnen gebaut. Zivilisten und Soldaten können in den Räumen der Organisation lernen, wie man sie steuert.
Der Bürgermeister wehrt sich
"Zu Beginn der Invasion haben sich alle mobilisiert, auch die lokalen Behörden", erzählt Podolian. "Aber im Laufe des vergangenen Jahres scheinen sie sich entspannt zu haben und zum normalen, friedlichen Leben zurückgekehrt zu sein." Die Menschen, die in diesem Krieg sterben, gerieten aus dem Fokus, sagt er.
Diesen Vorwurf will sich Anatolij Bondarenko so nicht gefallen lassen. Er ist der Bürgermeister von Tscherkassy. Die Stadt kümmere sich schließlich auch um die Behandlung der verwundeten Soldaten, sagt Bondarenko. "Dabei hilft uns niemand anderes. Wenn wir technische Ausrüstung brauchen, kaufen wir sie und stellen sie in unsere Krankenhäuser."
In diesem Krieg würden es die Ärzte mit Wunden zu tun bekommen, die sie vorher noch nie gesehen haben. Sie brauchten andere Geräte und Medikamente, erklärt Bondarenko.
Bürgermeister Bondareko verteidigt seinen Kurs. Doch ein Dialog mit den vielen Kritikern ist kaum möglich.
Umstrittene Umfrage
Die Demonstranten machten es sich zu einfach mit ihren Forderungen, glaubt Bondarenko und verweist auf Instruktionen der Polizei. Straßen müssten schließlich verkehrstauglich sein. Und auch Bürgerbefragungen zeigten, dass die Mehrheit der Einwohner von Tscherkassy sich für einen ordentlichen Zustand der Straßen ausspricht.
Podolian hält diese Umfragen aber für wenig glaubwürdig. Es sei nur gefragt worden, ob die Bewohner die Straßenarbeiten unterstützen.
Deshalb will er eine eigene Umfrage machen. Die Frage sollte seiner Meinung nach so aussehen: "Was halten Sie für sinnvoller, die Mittel der Stadt für Straßen oder für die Unterstützung der Streitkräfte auszugeben?" Dann würden die Menschen den Preis für die Straßen verstehen, ist er sich sicher.
Proteste in vielen Städten
Nicht nur in Tscherkassy, auch anderenorts in der Ukraine wird zurzeit über die kommunalen Haushalte diskutiert. In allen großen Städten gibt es regelmäßige Proteste. In Kiew ziehen an einem Samstag Hunderte Menschen durch das Stadtzentrum. "Geld für die ukrainischen Streitkräfte", rufen sie.
Ein Teilnehmer hält ein Schild hoch. "Wir brauchen keine Stadien, sondern Drohnen", ist dort zu lesen.
Auch in Charkiw wurde gegen kommunale Sanierungsmaßnahmen demonstriert.
Die Zentralregierung schichtet Mittel um
Dass Städte und Gemeinden im Krieg das Geld völlig unnütz ausgeben würden, sei aber so nicht richtig, sagt Witalij Pylypiw. Er lehrt an der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kiew und ist Experte für kommunale Finanzen.
Es gebe zwar einzelne Ausgaben von Gemeinden, die Fragen aufwerfen, sagt er. Aber gerade Gemeinden leisteten einen erheblichen Anteil an Ausgaben, die durch den Krieg entstehen. "Nicht nur im militärischen Bereich, auch beim Wiederaufbau und der Wiederherstellung von Energieanlagen und Infrastruktur entstehen ihnen Kosten. Oder für den Bau von zivilen Schutzräumen."
Der ukrainische Staat will trotzdem Gelder von den lokalen Budgets auf den zentralen Haushalt der Regierung in Kiew umschichten. Anfang November hatte das Parlament, die Werchowna Rada, ein neues Gesetz verabschiedet.
Die Einnahmen aus der Einkommenssteuer von Militärangehörigen fließen ab sofort alle in den zentralen Staatshaushalt. Sie sollen künftig für Drohnen, die Herstellung von Waffen und Munition und Militäreinheiten ausgegeben werden.
Kommunale Haushalte profitieren von Militäreinheiten
Vorher hatten einige Kommunen stark von der Militäreinkommensteuer profitiert. Laut Pylypiw hatten sie insgesamt fast 2,6 Milliarden Euro im Jahr mit der Steuer eingenommen.
Allerdings profitierten die Städte und Gemeinden unterschiedlich stark davon. Denn nur dort, wo Einheiten stationiert wurden, gab es Einnahmen durch die Militäreinkommensteuer.
Teilweise hätten einzelne Kommunen deshalb zehnmal so viele Einnahmen erhalten wie vor der Invasion. Der Finanzexperte erklärt dazu: "Wir haben ein Ungleichgewicht. Das veranlasst die Politik zu dieser Entscheidung."
Dialog kaum möglich
In Tscherkassy sieht Bürgermeister Bondarenko nun die Arbeit seiner Verwaltung bedroht. Drei Millionen Euro hat seine Stadt im Jahr durch die Steuer eingenommen.
Doch selbst in dieser für seine Stadt schwierigen finanziellen Lage sind Straßenreparaturen richtig, glaubt der Bürgermeister. Er hat die Demonstranten deshalb zu einer Stadtratssitzung eingeladen. Knapp 100 Bürgerinnen und Bürger sind gekommen. Doch statt Dialog gibt es nur gegenseitige Vorwürfe.
"Niemand hat Ihnen das Recht gegeben, die Stadt zu vertreten", ruft er den Aktivisten im Saal wütend entgegen. "Sie sind nicht die Gemeinde. Sie wird von gewählten Stadträten vertreten." Die Menge reagiert mit Buhrufen.
Auch Aktivist Podolian ist bei der Stadtratssitzung und tritt ans Rednerpult. "Wir fühlen uns betrogen", sagt er in Richtung Bürgermeister. "Jedes Mal, wenn Sie uns angreifen, kommen mehr zu den Protesten."
Eine volle Bürgerversammlung - am Ende geht man unversöhnlich auseinander.
Der kleinste gemeinsame Nenner
Die Situation scheint verfahren. Eine Lösung gibt es nach dem Treffen nicht. Einig sind sich beide Seiten nur darin, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss und dass dafür die Soldaten bestmöglich ausgestattet sein müssen.
Für Podolian heißt das, dass Straßen und andere Projekte in der Stadt bis nach dem Krieg warten müssen. Dafür will er auch weiter demonstrieren gehen.