Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beugt sich mit Militärs bei Kupjansk über eine Karte.
interview

Krieg in der Ukraine "Dieses elende Fegefeuer bringt kein Ergebnis"

Stand: 03.12.2023 05:23 Uhr

Der Westen liefere der Ukraine zu wenig Waffen, während Russland es immer wieder schaffe, sich an wechselnde Gegebenheiten auf dem Schlachtfeld anzupassen, warnt Oberst Reisner vom österreichischen Heer. Er fordert eine harte Entscheidung von Europa.

ARD: Ist die Ukraine dabei den Krieg zu verlieren?

Markus Reisner: Die Ukraine ist dann dabei, den Krieg zu verlieren, wenn der Westen der Ukraine nicht die notwendige Unterstützung zukommen lässt. Das ist ein Abnutzungskrieg - und der wird vor allem über Ressourcen entschieden, nicht über die Moral.

Die Ukraine muss nachhaltig aufgestellt werden. Allerdings tritt in den europäischen Hauptstädten eine gewisse Katerstimmung ein. Man hat gedacht, dass die Waffenlieferungen ausreichen. Aber das ist nicht der Fall.

Screenshot Youtube Markus Reisner
Zur Person

Oberst Markus Reisner ist Offizier des österreichischen Bundesheeres, Historiker und Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien. Seine Erläuterungen der militärischen Lage in der Ukraine wurden via YouTube einem breiten Publikum bekannt.

"Es braucht tiefergehende Anstrengungen"

ARD: Aber der Westen hat in der Vergangenheit viel geliefert, liefert und unterstützt weiter. Ist überhaupt noch mehr Unterstützung möglich?

Reisner: Mit der bestehenden Rüstungsproduktion wird man nicht in der Lage sein, das zu liefern, was man wirklich braucht. Da braucht es mehr Anstrengung. Und ich möchte hier nicht das Wort Kriegswirtschaft verwenden, aber es braucht tiefergehende Anstrengungen.

Neutral betrachtet ist die Situation ernst. Das muss der Westen verstehen. Ist er bereit, die Ukraine zu unterstützen? Dann muss er mehr tun. Ist er dazu nicht bereit, dann muss er das kommunizieren. Dieses elende Fegefeuer aktuell bringt nur mehr Tote, aber kein Ergebnis.

"Man kann mehr tun, hat aber Angst"

ARD: Sie haben vor etwa einem Jahr bereits kritisiert, die Waffenlieferungen seien "Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig".

Reisner: Ich hab das eigentlich schon relativ kurz nach Beginn des Krieges gesagt. Als klar war, dass die Russen beginnen, sich vom Schock des Misserfolgs am Anfang zu erholen. Schon damals konnte man erkennen, dass alle Voraussetzungen für einen Abnutzungskrieg geschaffen werden. Einen Abnutzungskrieg kann man nicht nebenbei führen, da muss man "All In" gehen.

Denken Sie an das HIMARS-System. Statt der geforderten 100 bis 150 Stück liefert man bis heute 38. Auch Kampfflugzeuge hätte man früher liefern können. Bei den ATACMs liefert man die älteste Version in geringer Stückzahl. Man kann mehr tun, hat aber Angst vor der Eskalation.

Jetzt stellt man im Westen ernüchtert fest, dass man tiefer in die Taschen greifen muss. Aber diese Botschaft seinen Bevölkerungen mitzuteilen, traut sich momentan keiner, weil man Angst hat, dass man damit Radikalen Vorschub leistet.

ARD: Die EU betont immer wieder sie stehe so lange wie nötig an der Seite der Ukraine und unterstütze sie dabei, die völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen von 1991, also einschließlich der Krim und des Donbass, wiederherzustellen.

Reisner: Dann muss man auch tun, was nötigt ist. Die russische Kriegsindustrie ist trotz elf Sanktionspaketen immer mehr in der Lage, sich anzupassen. Und Russland ist nicht isoliert, sondern hat genug Unterstützung aus dem Globalen Süden, um diesen Krieg länger führen zu können.

"Europa scheint den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben"

ARD: Es heißt, Russland produziere im Jahr zwei Millionen Artilleriegeschosse und ist laut südkoreanischen Angaben seit August mit zusätzlich einer Million Geschossen aus Nordkorea beliefert worden. Die EU hingegen konnte ihre Versprechen nicht halten und hat bisher erst 300.000 Artillerieschosse geliefert.

Reisner: Europa scheint den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben. Warum? Weil das verbunden sein müsste mit tatsächlich signifikanten kriegswirtschaftlichen Anstrengungen. Die NATO sagt selbst: Das Fass ist langsam leer, mehr haben wir nicht. Produktionskapazitäten hochzufahren dauert Jahre, nicht Monate.

Und die Ukraine hat keinen funktionierenden militärisch-industriellen Komplex in der notwendigen Größenordnung mehr. Sie kann nicht im großen Stile produzieren, auch wegen der russischen Luftangriffe auf die kritische Infrastruktur.

"Lage noch prekärer als im vergangenen Jahr"

ARD: Die ukrainische Offensive hat nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Und die Ukrainer sind aktuell auch nicht in der Lage, die Russen in Bewegung zu halten. Bietet man ihnen also wie im vergangenen Jahr die Möglichkeit, starke Verteidigungslinien auszubauen?

Reisner: Ich glaube, die Lage ist sogar noch prekärer als im vergangen Jahr. Da war Russland lange in der Defensive. Die russische Seite hatte Angst, die besetzten Gebiete zu verlieren. Darum hat sie begonnen, sich einzugraben.

Die Ukraine ist dann mit dem zur Verfügung stehenden Gerät in die Offensive gegangen und gescheitert. Nach diesem Abwehrerfolg hat sich die russische Stimmung ins Positive verändert. Und jetzt glauben die Russen sogar, dass sie die Ukrainer über die Zeit in die Knie zwingen können.

"Menschenjagd auf einzelne Personen"

ARD: Ein relativ neues Phänomen sind sogenannte FPV-Drohnen - also First-Person-View-Drohnen mit Sprengsätzen, mit der Drohnenpiloten fast wie bei einem Computerspiel mit AI-Brille direkte Sicht auf den Gegner haben. Wie verändern diese Systeme den Krieg?

Reisner: Durch den gleichzeitigen Einsatz tausender Drohnen entsteht ein gläsernes Gefechtsfeld. Jeder weiß, was der andere tut. Keiner kann wirklich ins Manöver gehen. Man versucht jetzt, dieses gläserne Gefechtsfeld wieder abzudunkeln, damit das Manöver wieder möglich ist. Dafür muss man das elektromagnetische Feld beherrschen. Aber auch hier konnten die Russen eine massive Dominanz ausbauen.

ARD: Was bedeutet das konkret für die Soldaten im Schützengraben?

Reisner: Das ist die Hölle. Wir erleben eine Menschenjagd auf einzelne Personen. Im Ersten Weltkrieg konnte man sich noch in den Schützengraben retten, wenn man nicht unter direktem Beschuss eines Maschinengewehrs stand. Aber auf dem gläsernen Gefechtsfeld können wir heute aus zwei Meter Distanz durch eine Drohne Menschen beim Sterben zusehen.

ARD: Mit einer verhältnismäßig günstigen kleinen Drohne kann man einzelne Menschen, aber auch schwere Militärtechnik wie Kampfpanzer angreifen und zerstören. Man kann in Unterstände und Gebäude fliegen.

Reisner: Und die Drohnen wirken sich auch direkt auf die Versorgung der Verwundeten aus. Da sind wir praktisch im 19. Jahrhundert angekommen. Fast wie zu Zeiten Napoleons, wo durch Amputationen Leben gerettet wurden. Wir sind nicht bei der "Golden Hour" - nach einer Stunde sind Sie im Krankenhaus und werden von Spezialisten behandelt. Nein. Wenn Sie morgens verwundet werden, sterben Sie, weil man Sie nicht evakuieren kann.

Trifft es Sie am Abend, haben Sie Glück. Dann kann man Sie in der Nacht holen. In der nächsten Sanitätseinrichtung werden Ihnen dann die Gliedmaßen abgenommen, um Ihr Leben zu retten. Und das mehr als 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges. Mehr als 200 Jahre nach der Zeit der Napoleonischen Kriege.

"Russland wird weiter machen"

ARD: Wie kann dieses Gemetzel aus Ihrer Sicht beendet werden? Russland will nicht verhandeln - im Gegenteil ...

Reisner: Es ist ein Dilemma. Es gibt sehr viele Parallelen zu der Situation in Korea. Der Koreakrieg war zu Beginn sehr dynamisch und dann entstand eine Pattsituation. Dann hat es zwei Jahre und 473 Verhandlungstage gebraucht, um ein 18-seitiges Dokument zu definieren, das einen Waffenstillstand festgelegt hat, der bis heute gilt. Beide Länder sind nach wie vor im Kriegszustand.

Das würde aber bedeuten, dass die Ukraine in den Grenzen, wie wir sie kennen, nicht mehr existieren wird. Und das Dilemma besteht darin, dass Russland noch weniger zu Verhandlungen bereit sein wird, sobald es merkt, dass der Westen in die Knie geht.

ARD: Und was sollte die Staaten der Europäischen Union jetzt tun?

Reisner: Die guten Zeiten werden vermutlich vorerst vorbei sein. Und wir müssen uns überlegen, wie wir diese neuen Zeiten gestalten. Wenn wir zum Schluss kommen, dass wir nicht bereit sind, die Ukraine so zu unterstützen wie notwendig, dann muss man das aus meiner Sicht kommunizieren und beginnen möglicherweise Verhandlungen zu führen.

Dann hat Russland uns aber genau dort, wo es uns haben will, und Russland wird mit dem weiter machen, was es will. Und das ist die Vernichtung der Ukraine.

Das Gespräch führte Rebecca Barth, ARD Kiew

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 03. Dezember 2023 um 09:00 Uhr.