Ukraine in schwieriger Lage "Wir sind am Ende, wir sind müde"
Brutale Grabenkämpfe, Drohnen, die sich auf alles stürzen und eine abgenutzte Truppe: Nach fast zwei Jahren Krieg macht sich in der Ukraine Ernüchterung breit. Die Lage sei ernst, warnen Experten. Der Westen müsse umdenken.
Stundenlang kämpft Olena Rysch mit ihrer Einheit in den Schützengräben bei Awdijiwka. Mit ihren Kameras nehmen die Soldaten auf, wie sie das russische Feuer erwidern, Granaten werfen und sich vor heranrollenden Panzern verstecken. Das 30-minütige Video geht später in der Ukraine viral.
Nach fünf Stunden Kampf zieht sich die Gruppe um Rysch und dem in der Ukraine berühmten Filmregisseur Oleh Senzow, der nun in der Armee dient, erschöpft zurück. "Wir sind am Ende, wir sind alle müde", sagt Rysch über den aktuellen Zustand der ukrainischen Armee. "Wir haben niemanden mehr zum kämpfen, und der Feind wird immer aktiver."
Russland gewinnt die Initiative
Die ukrainischen Truppen sind in einer schwierigen Lage. Russland hat mehr Drohnen, mehr Artilleriegeschosse, mehr Männer, geht an vielen Stellen der Front zum Angriff über. Rysch aber will trotz Erschöpfung weiter versuchen, die von Russland besetzten Gebiete zu befreien. "Das ist unser Land, das sind unsere Leute, sie warten auf uns, und wir schulden es ihnen, sie nach Hause zu bringen", sagt sie.
Aber Russland sei sehr stark und sehr klug. "Und es handelt strategisch. Russland denkt nicht an morgen oder übermorgen, sondern an die nächsten Jahre", betont die Soldatin mit den bunt gefärbten Haaren.
Eine Aussage, die so wohl auch die meisten westlichen Militär- und Sicherheitsexperten unterschreiben würden. Die Zeit läuft aktuell für Russland, das sich seit Monaten auf einen langen Krieg einstellt und von Verbündeten wie Nordkorea oder dem Iran mit Waffen und Munition beliefert wird. Wer da mithalten wolle, müsse umdenken, fordern viele Experten. Passiert sei bislang zu wenig.
Experten warnen: "Das Fass ist leer"
Eine Million Artilleriegranaten hatte die EU versprochen, geliefert werden können offenbar nur 300.000. Nordkorea hingegen hat nach Angaben des südkoreanischen Geheimdienstes eine Million Artilleriegeschosse an Russland geliefert - und das in den vergangenen vier Monaten. "Es scheint, als habe Europa den Ernst der Lage nicht erkannt", meint Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.
Hinzu kommt, dass viele Partnerländer der Ukraine offenbar kaum mehr Ressourcen zur Verfügung haben. "Das Fass ist langsam leer, mehr haben wir nicht mehr", sagt Oberst Reisner. Seit über einem Jahr drängen Sicherheitsexperten darauf, die Produktionskapazitäten im Westen hochzufahren. Denn bis westliche Staaten ausreichend Munition und Gerät nachproduzieren könnten, würden Jahre vergehen.
"Mit dem jetzt bestehenden System wird man nicht in der Lage sein, das zu liefern, was es braucht", sagt Reisner. Es benötige signifikante Veränderung. "Die gab es bisher nicht und sie zeichnet sich auch nicht ab."
Neue Herausforderungen durch Drohnen
Unterdessen entwickelt sich der Krieg weiter. Eine große Gefahr stellen aktuell sogenannte First-Person-View-Drohnen (FPV) dar. Mit ihnen können Drohnenpiloten auf wenige Meter an den Feind herankommen und angreifen. Es ist der unsichtbare Tod aus der Luft.
"Wir erleben eine Menschenjagd auf einzelne Personen", sagt Oberst Reisner. Im Ersten Weltkrieg hätten sich die Soldaten noch in die Schützengräben retten können und dort etwas Zeit zum Verschnaufen gehabt. Auf einem "gläsernen Gefechtsfeld" gehe das nicht mehr. "Das ist die Hölle", so Reisner.
Mit Moral gewinnt man keinen Krieg
Der massive Einsatz von FPV-Drohnen führe auch dazu, dass die Verwundetenversorgung an das 19. Jahrhundert erinnere. Viele verletzte Soldaten könnten nicht rechtzeitig vom Schlachtfeld in Krankenhäuser gebracht werden. In der Folge käme es zu vielen Amputationen.
Der Historiker und Kommandant der österreichischen Garde spricht von "Katerstimmung", die sich in den westlichen Hauptstädten breit gemacht habe. Man habe zu lange geglaubt, das Problem allein durch die Moral der ukrainischen Soldaten und etwas Waffenhilfe lösen zu können. "Aber so ist das nicht", betont Reisner.
Ernüchterung macht sich derweil auch in der Ukraine breit. Während den Soldaten an der Front die Kraft ausgeht, stockt die Einberufung ins Militär. Managementprobleme und Korruption führen dazu, dass fähige Soldaten fehlen und viele Einheiten seit fast zwei Jahren keine Pause haben.
Leise Zweifel machen sich breit
In Anna Bondar wächst die Wut. Die 40-Jährige sitzt in einem kleinen Café in einem Kiewer Wohnviertel. Seit 21 Monaten ist ihr Ehemann im Einsatz, viermal hat sie ihn seitdem für wenige Tage sehen können. Zu wenig, findet sie. "Für die Moral der Soldaten wäre es doch gut, wenn sie ab und zu Urlaub bekommen könnten."
Der Krieg zehrt an ihren Nerven. Er verändere ihren Ehemann, berichtet sie, und die Ehe gleich mit. Leise Zweifel keimen auf. Russland wolle nicht verhandeln, sagt Bondar. "Aber wie viele Menschen sollen wir noch dahin schicken, um diese verminten Gebiete zurückzuholen? Und wer soll dann dort leben?"
Verminte Felder und zerstörte Siedlungen
Olena Ryscha, die Soldatin, kennt die Minenfelder in der Südukraine. Mit ihrer Einheit sollte sie bei der ukrainischen Offensive eigentlich in Richtung Tokmak vorstoßen. Doch nach Wochen des Kampfes und hohen Verlusten konnten die Ukrainer gerade ein paar zerstörte Dörfer befreien.
"Dort gibt es kein Leben mehr", berichtet Rysch. "Keinen Baum, keinen Zaun, kein Haus, keine Scheune, keinen Pfeiler. Der Tod hängt in der Luft. Und der Tod liegt auf dem Boden." Nie in ihrem Leben werde sie diesen Anblick vergessen.