Forderung nach Demobilisierung in Ukraine "Kaum mehr Kraft zu kämpfen"
Ihre Männer kämpfen seit 21 Monaten an der Front - nun formiert sich Widerstand unter den Ehefrauen ukrainischer Soldaten. Viele fordern die sogenannte Demobilisierung. Der Armee aber fehlen Reserven.
Bei Minusgraden und Schneefall demonstrieren sie auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. "Die Zeit der anderen ist gekommen" oder "Mein Mann ist kein Gefangener" steht auf ihren Plakaten. Es sind vor allem Ehefrauen ukrainischer Soldaten, die jetzt für die sogenannte Demobilisierung demonstrieren. "Wir fordern, dass sie die Möglichkeit erhalten, die Armee zu verlassen", erklärt Hanna Bondar. Seit 21 Monaten kämpft ihr Mann an der Front. Nun ist er erschöpft.
Wie viele andere hatte sich Bondars Ehemann zu Beginn des russischen Angriffskrieg freiwillig gemeldet. "Wir sind davon ausgegangen, dass er nach anderthalb Jahren die Möglichkeit auf Demobilisierung erhält, so wie es 2015 war", erklärt auch Julia Pawlienko. Von der einst hohen Motivation ihrer Männer sei nicht mehr viel übrig, berichten die Frauen. Der pausenlose Einsatz zermürbt die Truppe. Ihr Mann wolle nur noch überleben, sagt Pawlienko. Er habe kaum mehr Kraft zu kämpfen.
Proteste der Soldatenfrauen in Kiew.
Systematische Probleme bei der Einberufung
Es sind systematische Probleme, mit denen sich die ukrainischen Führung nun auseinandersetzen muss. Während es an der Front an gut ausgebildeten Soldaten mangelt, verstecken sich viele Männer vor den Einberufungsbehörden oder kaufen sich frei. Mit teils harschen Methoden werden andere auf den Straßen geschnappt und zur Armee geschickt. Die ukrainische Regierung müsse nun unpopuläre Entscheidungen treffen, meint der Veteran und Militärexperte Jewhen Dykyj.
Wie die Frauen auf dem Unabhängigkeitsplatz schlägt Dykyj einen zeitlich begrenzten Armeedienst vor. Zwei Jahre seien mehr als genug. Nach der aktuellen Regelung aber ist kein Ende in Sicht. Wer sich freiwillig meldet, zieht ein One-Way-Ticket in den Krieg. "Gleichzeitig müssen die Schrauben angezogen werden", sagt Dykyj. "Kein Land der Welt hat jemals einen so großen Krieg nur mit Freiwilligen gewonnen", meint Dykyj.
Rekrutierungsfirmen sollen helfen
Viele Männer geben an, nach wie vor bereit zu sein, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Dass es nach wie vor genug Mobilisierungspotenzial in der Bevölkerung gibt, zeigen auch einzelne Einheiten, die ihre Soldaten selber rekrutieren.
Sie werben oft mit heroisch wirkenden Plakaten. Freiwillige können sich bei ihnen auf eine konkrete Position bewerben und durchlaufen ein Auswahlverfahren. Der Andrang in diesen Einheiten ist so hoch, dass nicht alle Anwärter genommen werden. Die ukrainischen Führung will daher vermehrt auf Rekrutierungsfirmen wie Lobby X setzen.
"Bei uns können sich Menschen abhängig von ihrer Eignung freiwillig auf eine konkrete Stelle in einer konkreten Einheit bewerben", sagt Lobby X-Chef Wladyslaw Hresjew. Wer aber von den Behörden eingezogen wird, erfährt oft nur eine kurze Ausbildung und individuelle Fähigkeiten würden nicht berücksichtigt, lautet die Kritik.
Einsatz soll zeitlich begrenzt werden
Der Verteidigungsausschuss des ukrainischen Parlamentes arbeitet seit Monaten an einem neuen Gesetzentwurf, um das Problem zu lösen. Denn auch Headhunting-Firmen sind nicht in der Lage, die 100.000 benötigten Soldaten zu rekrutieren. Eine Reform muss her und das schnell, meint Jewhen Dykyj. Wichtig sei dabei vor allem die Befristung der Dienstzeit.
"Damit lösen wir zwei Probleme auf einmal. Das derjenigen, die aktuell im Einsatz sind. Und das der neuen Anwärter. Ein, zwei oder sogar drei Jahre in den Krieg zu gehen, ist etwas anderes, als mit einem One-Way-Ticket ins Ungewisse zu fahren."
Proteste stoßen auf Ablehnung
In der Bevölkerung wird eine Ausweitung der Einberufung wahrscheinlich nicht auf Begeisterung treffen. Die protestierenden Frauen auf dem Maidan erfahren viel Ablehnung, berichten sie. "Die Menschen verstehen: Damit mein Mann nach Hause kommt, muss ihr Mann gehen", berichtet Julia Pawlienko. Und auch Hanna Bondar berichtet von negativen Kommentaren in den sozialen Netzwerken: "Sie schreiben: Dann geht ihr doch an die Front."
Davon aber wollen sich die Frauen nicht entmutigen lassen. Damit die Armee weiterhin in der Lage sei, die Ukraine zu verteidigen, brauche es frische und gut ausgebildete Soldaten. Eine müde und unmotivierte Truppe sei nicht in der Lage, die russische Armee aufzuhalten.