Interview bei "Caren Miosga" Selenskyj wünscht sich Führungsrolle Deutschlands
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat bei "Caren Miosga" den Wunsch nach einer deutschen Führungsrolle bei der militärischen Unterstützung seines Landes bekundet. Im Interview, für das Miosga nach Kiew reiste, lobte er Kanzler Scholz.
Wie geht es der Ukraine 700 Tage nach Beginn des russischen Großangriffs - und wie leben die Menschen mit dem zermürbenden Krieg? Im Präsidialpalast in Kiew sprach Caren Miosga 45 Minuten mit Präsident Wolodymyr Selenskyj über die schwierige Lage seines Landes.
"Ich glaube, dass der Abnutzungskrieg bereits 2014 begann, als ein Teil unseres Landes besetzt wurde - die Krim und der Donbass", sagt er im Interview. Seit fast zehn Jahren besetzen russische Truppen die ukrainische Halbinsel, die von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde.
Fast zeitgleich zettelte Russland 2014 unter Federführung eigener Geheimdienste einen Krieg im Osten der Ukraine an. All das führe neben der Zermürbung der Menschen seit fast zehn Jahren auch zu einer Zermürbung der ukrainischen Wirtschaft, so Selenskyj.
"Haufen aus Leichen" auf dem Schlachtfeld
Er sei sich jedoch nicht sicher, ob es für Russland überhaupt um Zermürbung gehe. "Es ist ihnen egal, ob eine Million, zwei oder drei Millionen Menschen sterben", sagt Selenskyj. "Aktuell sehen wir das am Beispiel von Awdijiwka."
Der ukrainische Präsident, der im Dezember selbst in die umkämpfte und nahezu völlig zerstörte Frontstadt reiste, spricht von unzähligen toten russischen Soldaten. "Die Menschen liegen auf dem Schlachtfeld einfach übereinander. Das sind Haufen aus Leichen. Sie bringen sie nicht einmal weg", beschreibt er.
Seit Monaten versucht die russische Armee Awdijiwka in der Nähe der besetzten Großstadt Donezk einzunehmen. Beobachter sprechen von sehr hohen Verlusten auf russischer Seite, doch auch die Ukraine verliert viele Soldaten. Auf die Verluste der eigenen Armee ging der Präsident nicht konkret ein. Er gestand auf Nachfrage ein, dass es auch für ihn persönlich immer wieder schwere Momente gebe. Zum Beispiel dann, wenn er auf Mütter getöteter Soldaten treffe, deren Söhne er nicht zurückbringen könne.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht über die Verluste der russischen Streitkräfte - aber auch er muss vielen Eltern gefallener Soldaten schwere Nachrichten überbringen.
Neues Mobilisierungsgesetz in Planung
Selenskyj rechnet zudem mit einem neuen Gesetz, das Gerechtigkeit in die Frage der Mobilisierung bringen solle. Viele Soldaten seien schon seit Hunderten Tagen an der Front und hätten eine Pause verdient. "Es ist wichtig, dass das Militär zusammen mit dem Verteidigungsministerium eine gerechte Antwort auf diese Frage vorbereitet", sagt der ukrainische Präsident.
Miosga fragt Selenskyj auch nach seinem persönlichen Draht zu Bundeskanzler Olaf Scholz. "Wir sind völlig unterschiedlich. Das heißt aber nicht, dass wir unterschiedliche Auffassungen von dem haben, was vor sich geht. Und es bedeutet auch nicht, dass wir unterschiedliche Werte haben", antwortet er.
Die Hauptsache sei, dass unterschiedliche Menschen "durch ein gemeinsames Ziel vereint sind - und zwar vorzugsweise durch das Ziel des Friedens, nicht des Krieges". Er lobte den Bundeskanzler als einen der wahren "Leader Europas".
"Taurus"-Blockade "liegt nicht an Scholz"
Diese Aussage steht für den bemerkenswerten Wandel in den deutsch-ukrainischen Beziehungen. Im Januar 2023 warf der ukrainische Präsident dem Bundeskanzler im ARD-Interview noch fehlenden politischen Willen vor. Selenskyj äußerte damals Unverständnis über die Blockadehaltung der Bundesregierung in Bezug auf "Leopard"-Panzer. Wenige Tage nach dem Gespräch erteilte der Bundeskanzler die Freigabe. Die Wendung begründet Selenskyj so: "Olaf hat mich und die Ukraine besser kennengelernt."
Dass Deutschland der Ukraine noch immer nicht die erbetenen "Taurus"-Marschflugkörper liefert, macht Selenskyj nicht an Scholz fest. "Es liegt nicht an ihm persönlich", sagt er. Es gebe jedoch viele Dinge, die er öffentlich nicht sagen könne.
Scharfe Kritik übt Selenskyj hingegen an der Regierung von Altkanzlerin Angela Merkel:
Ich bin nicht enttäuscht von Olaf. Ich bin enttäuscht von der deutschen Politik, die bei der Besetzung der Krim nicht die Rolle gespielt hat, die die Ukraine verdient hätte - die Europa und die Welt verdient hätten. Die all die Menschen verdient hätten, die damals gelebt haben und die später in dem großen Krieg ums Leben gekommen sind.
Konkret hätte er schon damals ein entschiedeneres Bekenntnis Deutschlands zum Völkerrecht erwartet. In der Ukraine herrscht bis heute Unverständnis darüber, dass die Bundesrepublik trotz Krim-Annexion und Donbass-Krieg lange weiter an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland festgehalten hatte.
Selenskyj traut Deutschland Führungsrolle zu
Was, wenn die USA künftig als wichtigster Ukraine-Unterstützer ausfallen sollten? Diesen Fall hält Selenskyj zwar für unwahrscheinlich, er kann sich Deutschland - derzeit zweitgrößter Unterstützer seines Landes - allerdings durchaus in einer Führungsrolle vorstellen.
"Das würde ich mir sehr wünschen", sagt der ukrainische Präsident. Deutschland könne die Europäische Union konsolidieren. "Viele Länder haben ernsthafte wirtschaftliche Beziehungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten von deutschen Entscheidungen, weil Deutschland eine starke europäische Wirtschaft hat." Aus seiner Sicht sei eine mangelnde Unterstützung der Vereinigten Staaten falsch - "für alle".
Selenskyj formuliert eine einfache Gleichung: Entweder man sei der Meinung, dass die Ukraine Recht hat und Russland in die Schranken gewiesen werden sollte - oder man setze sich einer Gefahr aus. "Ich meine, entweder man glaubt daran oder man glaubt nicht daran. Ich möchte nur sagen, dass der Unglaube dieser oder jener Person, dieses oder jenes Ministers, sehr teuer sein wird", sagt er.
Zum Absturz eines russischen Militärflugzeugs in Belgorod wollte sich Selenskyj aufgrund unzureichender Informationen nicht äußern.