Nach Bercows Brexit-Intervention Ende einer unwürdigen Praxis
Im Brexit-Streit steht längst der Ruf der Briten als zurechnungsfähige Nation auf dem Spiel. Doch der Spielverlauf könnte sich jetzt ändern.
Im britischen Parlament ist es derzeit wie beim Cricket. Es ist so gut wie unmöglich, einem Außenstehenden die Regeln zu erklären, die am Ende ein Team zum Gewinner machen. Dennoch schauen alle fasziniert auf das Spielfeld, halten das ganze für typisch englisch und lieben die Briten für ihre seltsamen Rituale.
Der Brexit ist weit komplizierter als Cricket. Und die Welt schaut schon lange nicht mehr mit Zuneigung auf das Hauen und Stechen, das in dem schon immer auf Konfrontation angelegten Unterhaus jetzt in pure Anarchie auszuarten droht. Anders als Cricket ist der Brexit zu einer blutigen Schlacht geworden, in der es vor allem ein Opfer gibt: Den Ruf der Briten als zurechnungsfähige Nation.
Gelbe Karte für May
John Bercow, der Speaker, ist dabei so etwas wie der Schiedsrichter, der das Spiel in letzter Minute noch irgendwie retten will. In dieser Funktion hat er gestern die gelbe Karte gezogen und Theresa May zurückgepfiffen.
Sein Argument, dass May die Regeln der parlamentarischen Demokratie zerstört, indem sie konsequent am Unterhaus vorbei regiert, ist stichhaltig. Denn May hat jede politische Legitimität ihrer Regierung verspielt. Sie erklärte sich selbst zur Hüterin des "Willens des Volkes", legte ihn aber alle paar Wochen unterschiedlich aus.
Wie wird May mit der neuen Situation umgehen?
Das Parlament wurde ihr Gegner, und damit der "Gegner des Volkes", wie es die "Daily Mail" schon vor einiger Zeit auf den Punkt brachte. Und da das Parlament nicht so wollte wie May, machte sie sich dann eben daran, die Abgeordneten unter Zeitdruck in die Unterwerfung zu zwingen. Das konnte nicht gut gehen, und gestern beendete John Bercow diese unwürdige Taktik.
Seine Intervention, die Theresa May rechtlich bindend untersagt, ihren immer gleichen Deal ein drittes Mal vors Parlament zu bringen, könnte nun den Spielverlauf entscheidend ändern und vielleicht die Rückkehr der Vernunft einleiten. Oder aber sie entpuppt sich als Handgranate auf dem Spielfeld. Und das wiederum hängt entscheidend davon ab, wie May mit der neuen Situation umgehen wird.
Mit leeren Händen nach Brüssel
Eins steht fest: Sie wird nun mit leeren Händen am Donnerstag nach Brüssel ziehen. Denn bis dahin kann es nach der Bercow-Intervention keine erneute Abstimmung in London geben. Und sie wird Brüssel um eine Verlängerung ohne neue Sachlage bitten müssen. Etwas, was die EU bislang kategorisch ausgeschlossen hat.
Die französische Europaministerin erklärte am Morgen, die Briten hätten nun Nein zu einem realistischen Deal und Nein zum ungeregelten Brexit gesagt. Wenn Mays Deal aber nicht durchkomme, dann hieße das eben "No Deal".
May braucht eine doppelte Zusage
Dieser von allen so befürchtete Crash ist damit tatsächlich wieder näher gerückt. Denn wenn May der EU nicht erklären kann, wofür und warum sie eine Verlängerung braucht, dann wird es schwer für Brüssel, ihr eine zu geben, die sie zu Hause retten kann.
Was May nämlich eigentlich braucht, ist eine doppelte Zusage. Eine, die eine dreimonatige Verlängerung erlaubt, wenn sie ihren Deal nach dem Gipfel doch noch in London durchbekommen sollte. Und eine längere, für den Fall, dass ihr Deal ein drittes Mal durchfällt. Mit einer solchen Zusatzerklärung aus Brüssel dürfte Bercow eine erneute Abstimmung in der nächsten Woche erlauben.
"No Deal" als einzig verbleibende Option?
Aber angenommen, sie bekommt eine solche Verlängerung: Was passiert, wenn das Parlament sich dennoch erneut gegen sie und damit gegen beide Optionen stellt? Dann hätte sich Mays Brexit-Poker als das herausgestellt, was er immer war: als ein verantwortungsloses Zocken mit der Zukunft ihres Landes.
Und dann bliebe May nur noch entweder der "No Deal", denn der geschieht automatisch, wenn die Verhandlungen zwischen Brüssel und London ergebnislos scheitern. Oder die Option, die eigentliche Handgranate vom Spielfeld zu nehmen, nämlich Artikel 50 zurückzuziehen, um den ungeregelten Brexit zu verhindern. Sie könnte das einseitig tun, so das Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem vergangenen Dezember.
Aber wird sie das tun? Das weiß nur sie selbst. Und damit ist ein baldiges Ende mit Schrecken ebenso wahrscheinlich wie eine lange Fortsetzung der Brexit-Agonie, gegen die sich selbst das längste Test-Match im Cricket kurzweilig anfühlen würde.