Türkisches Erdbebengebiet "Es ist nicht die richtige Zeit für Wahlen"
Adiyaman war bei den vergangenen Wahlen eine Erdogan-Hochburg. Wegen fehlender Hilfen nach dem Erdbeben ist die Wut auf die Regierung jedoch groß. Mit Spannung wird erwartet, ob sich das im Wahlergebnis niederschlagen wird.
Die weiße Fassade der Mehmet-Akif-Ersoy-Grundschule in Adiyaman strahlt in der Sonne. Es ist eines der wenigen Gebäude in der Stadt, das keine Risse oder andere Erdbebenschäden hat. Eine Frau mit dunklen Locken und rotem Blazer hat gerade ihre Stimme drinnen abgegeben. Seit dem Erdbeben überlegt sie sich genau, in welche Gebäude sie geht und in welche nicht: "Ich gehe hier rein, weil es zuverlässige Berichte über das Gebäude im Internet gibt. Aber natürlich, wir haben weiter Angst, weil es immer noch Nachbeben gibt. Die Probleme sind noch da."
Manch einen kostet es Überwindung, das Trauma der Erdbebennacht wirkt nach. Ayse will nicht sagen, für wen sie gestimmt hat. Nur so viel: Vergangene Nacht habe sie kein Auge zugemacht. "Man ist schon aufgeregt, ob man will oder nicht, da es die erste Wahl nach dem Erdbeben ist", sagt sie.
"Wir finden keinen Besseren als Erdogan"
An der Grundschule ist viel los. Männer kommen mit dem Moped angebraust, auf dem Rücksitz sitzen ihre Frauen. Manche von ihnen kommen in weitem, dunklem Mantel mit Kopftuch, manche ohne und in sportlicher Kleidung, wie Ayse.
Bilal hat sich ein Jackett angezogen und die Türkei-Flagge ans Revers geheftet: "Es ist nicht die richtige Zeit für Wahlen. Ich meine, wie viele Tausende unserer Leute sind in den elf Provinzen gestorben? Es ist einfach nicht richtig, dass die Wahlen jetzt im Mittelpunkt stehen." Der 47-Jährige hat selbst 17 Menschen verloren, die ihm nahestanden. Seine Stimme hat er voller Hoffnung abgegeben - für Erdogan.
Auch Mehmet Ali ist ein glühender Anhänger des türkischen Präsidenten: "Wir hatten hier eine Erdbebenkatastrophe, er hilft den Menschen immer noch, er verteilt Geld. Obwohl unsere Wirtschaft im Moment ein wenig angeschlagen ist, hat er die Geldhähne aufgedreht. Wir werden für ihn stimmen, oder besser gesagt, wir haben für ihn gestimmt."
Immer wieder hört man in Adiyaman die Geschichten von den Tagen nach dem Erdbeben, als keine Hilfe kam. Manche kreiden das Erdogan und der Regierung in Ankara an, haben mit der Quittung dafür an der Wahlurne gedroht. Der 36-jährige Beamte gehört nicht dazu, sagt er. "Natürlich habe ich mir genau überlegt, für wen ich stimme, wie bei jeder Wahl. Aber wir finden einfach keinen Besseren als Recep Tayyip Erdogan", sagt Ali. "Wenn da ein Besserer wäre, würden wir ihn wählen. Aber hier herrscht kein Zwang und keine Diktatur, wie man das in Europa behauptet. Wir wählen, weil wir das so wollen."
Keine Wahlbeobachter in Adiyaman
Die Stadt ist voll am Wahltag, viele sind extra zurückgekommen für diese Schicksalswahl. Briefwahl gibt es in der Türkei nicht. Ergün Ukyanig von der Anwaltskammer ist einer von Hunderttausenden Wahlbeobachtern in der Türkei an diesem wichtigen Tag. In der Grundschule hier in Adiyaman läuft alles weitgehend ruhig ab, sagt der 28-Jährige - in der Umgebung allerdings nicht: "Wie wir in den WhatsApp-Gruppen unserer Anwaltskammer sehen können, haben Kollegen in anderen Schulen, vor allem in Dorfschulen, mit Problemen zu kämpfen. Sie werden bedroht: Du bist nicht zuständig, du hast hier nichts zu suchen, geh weg."
Mehrere hundert internationale Wahlbeobachter sind an diesem Wahltag in der Türkei, keiner davon in Adiyaman. Hier halten türkische Wahlbeobachter der Parteien die Stellung zusammen mit denen der Anwaltskammer bei der Stimmabgabe. Die Anwaltskammer gilt in der Türkei als regierungskritisch. In Adiyaman beobachtet sie Wahlen zum zweiten Mal, diesmal mit deutlich mehr Personal.
Angst vor Wahlbetrug
"Es gibt weitere Probleme, die an unsere WhatsApp-Gruppen der Anwaltskammer geschickt werden", sagt Ukyanig. "Ich habe sogar gehört, dass ein Dorf-Vorsteher den Menschen nicht erlaubt hat zu wählen und die Wahlurne geschlossen hat." Angeblich hat man das Problem lösen können, heißt es später. Alle könnten auch dort ihre Stimme abgeben.
Der junge Anwalt ist seit dem Morgen im Wahlbüro. Er hat die Stimmzettel kontrolliert und passt jetzt auf, dass beispielsweise nicht zwei Leute in eine Wahlkabine gehen, was schon mal versucht wird. Am Abend gehen die Säcke mit den Stimmzetteln dann ins Gerichtsgebäude der Stadt. Auch das wird von allen Seiten genau überwacht.
Denn die Angst vor Wahlbetrug schwingt immer mit, auch bei Ayse: "Ehrlich gesagt, möchte ich mir keine Sorgen machen, auch wenn die manchmal hochkommen. Aber ich will auf unsere Demokratie vertrauen. Ich glaube, dass meine Stimme ihren Platz erreicht." Später will sie zu Hause mit ihrer Familie die Auszählung verfolgen, am Fernseher und im Internet. Es könnte eine weitere schlaflose Nacht für sie werden.