Bei Erdogans Wiederwahl "Mit einem Bein immer im Gefängnis"
Integrationsforscher rechnen bei einem Wahlsieg des türkischen Präsidenten Erdogan mit einer Auswanderungswelle aus der Türkei. Unter den Kurden im Land gibt es einige, die Fluchtpläne schmieden - so wie Turgut.
Turgut heißt eigentlich anders. Er will aus Angst nicht erkannt werden. Der 30-Jährige lebt in der Kurden-Hochburg Diyarbakir im Südosten der Türkei. "Lebe Dein Leben, als hättest Du es vorher nie gelebt", steht auf Englisch auf seinem T-Shirt, und "Genieße jede Minute davon". Aber davon ist der junge Kurde mit dem hippen Vollbart himmelweit entfernt.
Er ist nervös, als er erzählt - und versucht den Eingang seines Cafés, das er vor ein paar Monaten aufgemacht hat, im Blick zu behalten. Seitdem kämpft er mit Einschränkungen bei Livemusik, steigenden Steuern auf Alkohol und anderen neuen Vorschriften. All das macht es ihm schwer, genug Geld zu verdienen, erklärt er: "Der wirtschaftliche Druck ist groß. Wenn ich jetzt heiraten würde, müsste ich hohe Schulden machen für eine Wohnung, Goldschmuck, eine Einrichtung. Das ist hier einfach so für alle jungen Leute."
Familie kämpft für mehr Rechte für Kurden
Seine Finger spielen mit seinem Feuerzeug. Schließlich fängt er an, von seiner Familie zu erzählen, die politisch aktiv ist. In dieser Region heißt das, dass sie für mehr Rechte für Kurden kämpft - in welcher Form, sagt er nicht. Er selbst hat sich früher bei der Jugend der pro-kurdischen Partei HDP engagiert. Das habe ihm zwei Gerichtsverfahren eingebracht - ohne Verurteilung, meint er und verzieht das Gesicht.
Er müsse raus aus der Türkei, wenn Erdogan an der Macht bleibt, um nicht im Gefängnis zu landen. "Es geht um unseren Widerstand, unseren Aufstand von damals. Und jetzt versuchen sie einen mit Ermittlungen, Prozessen und Gefängnis einzuschüchtern." Mit einem Bein stehe er immer im Gefängnis, meint er, als er sich wieder zum Eingang dreht - egal ob er sich politisch engagiere, oder nicht.
"Sobald ich die Zusage kriege, bin ich weg"
In der vergangenen Woche war er beim niederländischen Konsulat in Istanbul. "Ich habe schon einen Antrag für ein Schengen-Visum gestellt. Aber oft kriegt man erst eines beim zweiten oder dritten Antrag, habe ich gehört. Ich hab ja hier noch ein Geschäft und einen Job. Ich würde erst einmal als Tourist hinreisen. Ein Arbeitsvisum und so weiter - das wäre dann der zweite Schritt."
Im Notfall würde er auch Klos putzen in den Niederlanden, sagt er, und greift sich einen Stift als neues Spielzeug. Ein Freund wollte letzte Woche illegal mit Schleppern nach Griechenland. Seitdem hat er nichts mehr von ihm gehört. Er macht sich Sorgen.
In seiner Wohnung in der Nähe des Cafés stehen kaum Möbel. Neben dem Bett liegen ein kleiner Handgepäckkoffer und ein Rucksack. "Die zwei Taschen werde ich mitnehmen. Die sind jetzt noch leer. Aber meine ganzen Sachen liegen parat. Ich habe sogar meine Schuhe in die Kartons gepackt. Alles ist gebügelt. Sobald ich die Zusage kriege, bin ich weg."
In Turguts Wohnung stehen kaum Möbel. Er ist darauf vorbereitet, schnell das Land verlassen zu können.
Kurden fürchten eine noch schlimmere Situation
Er kramt ein paar zerknüllte Zettel aus dem Rucksack, die Belege für seinen Visumsantrag. 2000 Lira hat er bezahlt, umgerechnet knapp 100 Euro: Das ist viel Geld in diesen Tagen in der Türkei. Das Geld ist weg, auch wenn sein Antrag abgelehnt wird. Das ist es ihm wert. Auch seine Freundin würde er für ein neues Leben in Freiheit zurücklassen.
Das Rennen bei der Präsidentschaftswahl zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu ist knapp. "Wenn Kilicdaroglu gewinnt werden wir feiern. Wenn die Regierung wieder gewinnt, wird alles so bleiben, wie es ist", sagt Turgut. Oder schlimmer werden, fürchten viele Kurden. Turgut würde seine Auswanderungspläne in keinem Fall ganz aufgeben, sagt er - während er jetzt wieder sein Feuerzeug durch seine Finger wandern lässt. Es scheint, als würde er niemandem mehr trauen.