Junge Wähler in der Türkei Unzufrieden - und doch eine Stütze Erdogans?
Bei der Wahl in der Türkei könnte jungen Wählern eine entscheidende Rolle zukommen. Viele kennen nur Erdogan an der Spitze von Staat und Regierung und sind unzufrieden. Doch profitiert am Ende davon ausgerechnet Erdogan?
Lautstark ruft Ismail Temel den Passanten Inhalte des Parteiprogramms der links-grünen Yesil-Sol-Partei entgegen: "Eure Stimme - für eine starke Vertretung der Frauen und Jugendlichen im Parlament! Mit uns werden die Taschen der Arbeiter wieder voller", deklamiert er. Temel steht an einer Anlegestelle am Bosporus im Istanbuler Stadtteil Besiktas.
Seit zwei Wochen macht er hier täglich Straßenwahlkampf, verteilt Flugblätter, versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, sie zu überzeugen. Temel ist 22 Jahre alt, Student und darf das erste Mal bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seine Stimme abgeben.
Wunsch nach Politikwechsel
Für ihn ist klar, es muss einen Politikwechsel in der Türkei geben: "Die AKP zu besiegen, wäre eine Errungenschaft für dieses Land. Dann können alle Menschen besser atmen und in Frieden und Ruhe leben." Bei diesen Wahlen gehe es um nicht weniger als um mehr Gerechtigkeit, um mehr Chancen für Frauen, für Arbeiter und vor allem auch für junge Menschen, sagt er.
Ismail und seine Generation kennen die Türkei nur unter der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP.
Fünf Millionen Erstwähler
So wie Ismail dürfen rund fünf Millionen junge Türkinnen und Türken am 14. Mai zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Das sind etwa acht Prozent aller Wahlberechtigten - nicht unerheblich also für den Wahlausgang.
Umfragen zufolge stehen jüngere Wähler Erdogan und seiner Regierung sehr skeptisch gegenüber. Etwa 50 Prozent der 18- bis 30-Jährigen sind gegen den amtierenden Präsidenten, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Türkiye Raporu im April.
Was jungen Wählern wichtig ist
Die Unzufriedenheit junger Wähler richtet sich laut Umfragen nicht nur gegen die Regierung - sie haben demnach überhaupt ein nur sehr geringes Vertrauen in die Parteien und politischen Institutionen. Die meisten bevorzugen einen gerechten und keinen autoritären Staat. Sie wollen mehr Freiheiten, mehr Chancen, fühlen sich vernachlässigt und nicht ernst genommen.
Vor allem wirtschaftlich sehen sie keine Perspektiven für sich und ihre Generation. Eine hohe Inflation und eine Jugendarbeitslosigkeit von derzeit rund 19 Prozent, all das bereitet den Jungen große Sorgen.
Die meisten von ihnen haben finanzielle Schwierigkeiten und können sich derzeit keine Wohnung leisten. Ob Arbeitsbedingungen, Justiz und Bildung - bei all diesen Themen wünschen sie sich grundlegende Verbesserungen und Veränderungen.
Eine längere Entwicklung
Und das ist nichts Neues. Schon 2021 kam eine Jugendstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der jungen Menschen in der Türkei eine pessimistische Sicht auf die Zukunft ihres Heimatlandes hat und gerne in einem anderen Land leben würde, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte.
Das Meinungsforschungsinstitut Türkiye Raporu bestätigt mit seinen aktuellen Umfragen den Trend: "Die meisten Jungwähler sehen die Auswanderung aus der Türkei als Option an, sollte Erdogan gewinnen."
Im Umkehrschluss glauben die meisten Befragten daran, dass es einen Wandel in der Türkei geben werde, sollte Erdogan verlieren.
Werbung mit Gigabyte
Umso mehr umwerben beide Hauptkonkurrenten, der 69-jährige Recep Tayyip Erdogan und der 74-jährige Kemal Kilicdaroglu, die Gruppe der Erst- und Jungwähler und versuchen, sie direkt anzusprechen. Sie versprechen etwa die Abschaffung einer Steuer auf den Kauf von Handys oder einen kostenlosen Zugang zum Internet.
Kilicdaroglus Bündnis warb mit fünf kostenlosen Gigabyte im Monat, die Regierung zog dann später mit elf Gigabyte als Versprechen nach. Kilicdaroglu verspricht auch, die Jugendarbeitslosigkeit gezielt mit neuen Ausbildungsprogrammen zu senken, will Jungunternehmer und Start-ups fördern.
Wirtschaftlichen Aufschwung verspricht indes auch die AKP. Die wirtschaftliche Lage spielt überhaupt eine große Rolle im Wahlkampf, denn kein Thema beschäftigt die Türkinnen und Türken laut Umfragen mehr - nicht nur die Jungwähler.
Nimmt sich die Opposition die Stimmen weg?
Doch bei aller Unzufriedenheit mit Erdogan - es ist nicht sicher, dass dies automatisch seinem wichtigsten Herausforderer Kilicdaroglu vom Oppositionsbündnis "Sechser-Tisch" zu Gute kommt.
Denn Türkiye Raporu stellt fest, "dass einige junge Wähler Erdogan und Kilicdaroglu als eine Art Duo und nicht als Erzrivalen betrachten, die zusammen das Alte und das längst Vergangene repräsentieren".
Populär als "Anti-Kandidat"
Die Wahlforscher gehen davon aus, dass sich ein Teil der Unzufriedenen anderen Kandidaten zuwenden könnte: Muharrem Ince von der Heimatpartei Memleket Partisi und Sinan Ogan vom Wahlbündnis Ata Ittifaki.
Ince lag Anfang Februar bei jungen Menschen hoch im Kurs. Er präsentiert sich als eine Art Anti-Kandidat und machte bei vielen jungen und unentschlossenen Wählerinnen und Wählern von sich Reden, als er kurz nach dem Erdbeben das Katastrophengebiet besuchte und Rechenschaft für die Ereignisse einforderte.
Ein von ihm veröffentlichtes TikTok-Tanz-Video ging zu der Zeit viral und trug anfangs stark zu seiner Popularität bei. Jedoch sinken seine Popularitätswerte sei Ende März wieder.
Diese Stimmen könnten am Ende Kilicdaroglu von der Partei CHP fehlen - und Erdogan zum Sieg verhelfen.
Die Mühen der Wahlkämpfer
In Besiktas sind rund um die Anlegestelle alle Parteien mit Ständen vertreten. Tausende laufen an den Aufstellern und Fahnen mit den Konterfeis der vier Kandidaten vorbei. Nur wenige aber bleiben stehen, lassen sich auf Gespräche mit den Wahlkämpfern ein.
Ismail Temel ruft trotzdem unermüdlich seine Wahlparolen, er wird bis zum Wahltag für seine Partei, für seine Überzeugungen Werbung machen. Denn, so bekräftigt er, nur mit einem Politikwechsel könne die Türkei wieder ein freieres, demokratischeres und gerechteres Land werden.
Über die Wahlen in der Türkei berichtet die ARD in einem Weltspiegel extra - heute um 22.50 Uhr im Ersten.