Türkischer Oppositionsführer Kilicdaroglu "Unsere Demokratie ist ausgeblutet"
Kemal Kilicdaroglu könnte der nächste Präsident der Türkei werden. Im tagesthemen-Interview spricht er über seine Pläne für eine andere Türkei, über die Rückführung syrischer Flüchtlinge - und über Gemeinsamkeiten mit Kanzler Scholz.
tagesthemen: Herr Kilicdaroglu, Sie kündigen nichts weniger an, als in der Türkei die Demokratie wieder herzustellen. Wie soll das gehen, 20 Jahre Willkür und Korruption eben mal einfach so abzuwicklen?
Kemal Kilicdaroglu: In diesen 20 Jahren ist unsere Demokratie ausgeblutet. Unser Sechserbündnis ist zusammengekommen, um das wiederaufzubauen, um die Demokratie wiederherzustellen. Was uns zusammengeführt hat, ist die Sehnsucht nach Demokratie. Dieses Land braucht die Demokratie. Besonders die Jugend ruft immer lauter danach.
Die Türkei hat stark an Vitalität eingebüßt, da keine Demokratie existierte und alle Macht bei einer Person lag. Wir haben große wirtschaftliche Probleme. Um das zu reparieren und die Demokratie wieder herzustellen, wollen wir ein gestärktes parlamentarisches System einführen.
Wir werden die Verfassung ändern. Wir werden ein Gesetz zur politischen Ethik beschließen. Da gibt es vieles, was wir noch in Angriff nehmen werden. Und: Sämtliche demokratischen Standards der Europäischen Union werden wir - ohne die Öffnung eines neuen Kapitels durch die EU abzuwarten - vollständig umsetzen.
Sechs Tage vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei fangen die tagesthemen die Stimmung im Land ein. Caren Miosga spricht mit Befürwortern und Gegnern des amtierenden Präsidenten, blickt auf die Frauenrechte im Land und die Lage im Erdbebengebiet. Vor der Kulisse der Hagia Sophia und der Blauen Moschee spricht sie unter anderem mit dem Menschenrechtsanwalt Veysel Ok und mit Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu.
"Niemand sollte inhaftiert werden, weil er seine Meinung kundtut"
tagesthemen: Was geschieht beispielsweise mit den politisch Inhaftierten - werden Sie die begnadigen?
Kilicdaroglu: Bezüglich der politisch Inhaftierten hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ja geurteilt: Sie müssen aus der Haft entlassen werden! Erdogan aber übt Druck auf die türkische Justiz aus. Deshalb sind sie weiter in Haft. Würden diese europäischen Urteile umgesetzt, wären ohnehin alle frei.
In der Türkei des 21. Jahrhunderts sollte niemand inhaftiert werden, weil er seine Meinung kundtut. Eine Türkei, in der freie Meinungsäußerung mit Gefängnis bestraft wird, lehnen wir kategorisch ab.
"Werden eine Vereinbarung mit Regierung Syriens schließen"
tagesthemen: Sprechen wir über die EU. Sie haben angekündigt, die vier Millionen geflüchteten Syrer in der Türkei wieder nach Hause schicken zu wollen. Wollen Sie das Flüchtlingsabkommen mit der EU wieder aufkündigen?
Kilicdaroglu: Wir haben vier Millionen syrische Flüchtlinge. Und wir beherbergen diese seit Jahren. Doch sie alle arbeiten in der Türkei ohne Versicherungsschutz. Was aber wird morgen aus ihnen, wenn sie alt sind? Hier sind wir in der Pflicht, eine Politik zu gestalten, die nicht nur das Jetzt, sondern auch die Zukunft im Blick hat.
Wir wollen es wie folgt machen: Was die Syrer hier angeht: Zunächst werden wir mit der legitimierten Regierung Syriens eine Vereinbarung schließen. Wir werden gegenseitig Botschaften eröffnen. Den hiesigen Syrern werden wir Sicherheiten für Leben und Vermögen gewährleisten, sofern sie in ihr Heimatland zurückkehren. Gegebenenfalls müssten sich hier auch die Vereinten Nationen einschalten.
Ferner werden wir bei der Rückführung der in der Türkei lebenden Syrer nach Syrien deren Straßen, Brücken, Schulen, Kindergärten, alles wiederaufbauen. Damit sie völlig unbesorgt in ihr Heimatland zurückkehren können. Unser Ziel ist: Diese Menschen sollen in der Lage sein, frei in ihrem eigenen Land zu leben.
Darüber hinaus brauchen sie auch Arbeit dort. Unsere Industrieunternehmer aus Gaziantep werden in Syrien investieren. Wir wären sehr glücklich, wenn auch die Europäer das tun möchten. Die Syrer können dann als Urlauber wieder in die Türkei kommen, oder ihren Urlaub in Deutschland verbringen.
Was aber, wenn wir das alles nicht tun? Innerhalb der nächsten Jahre werden viele dieser Menschen altern. Das wird dann ein Problem nicht nur für uns, sondern auch für die EU. Mit der kurzsichtigen Politik von heute sollten wir nicht fortfahren. Wir möchten mit einer Politik auf lange Sicht diese Menschen in ihr Heimatland zurückschicken. Oder besser gesagt, nicht zurückschicken, sondern verabschieden.
Wir sind gegen Rassismus. Auf gar keinen Fall hegen wir Ressentiments gegen sie, denn wir haben ja verwandtschaftliche Beziehungen.
tagesthemen: Viele derjenigen, die da sind, gehören zur Opposition in Syrien und werden mitnichten zurück wollen in die Arme des Machthabers Assad, sondern die wollen in die EU. Und Sie bekommen dann ein Problem mit der EU.
Kilicdaroglu: Ich habe ja mit Meinungsführern der Syrer hier gesprochen. Ebenso mit den Vorsitzenden einiger politischer Parteien und mit einigen von hier aus publizierenden Journalisten, die die legitimierte syrische Regierung kritisieren. Wenn wir die Sicherheit von Leben und Eigentum gewährleisten, wenn dort Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden, dann, so sagen sie, würden sie sowieso aus freien Stücken in ihr Heimatland zurückgehen.
"Die Türkei einer autoritären Regierung entreißen"
tagesthemen: Fast 20 Jahre wurde die Türkei von einem Mann regiert, der sich selbst als große Vaterfigur inszeniert hat, der als großer Rhetoriker gilt, als großer Demagoge. Sie sind praktisch das totale Gegenteil, wurden von einer Finanzzeitung sogar zum Bürokraten des Jahres gekürt. Sind Sie der Olaf Scholz der Türkei?
Kilicdaroglu: Olaf Scholz ähnlich zu sein, ist mir eine Ehre. In der Tat, ich bin ein ruhiger Mensch. Nicht leicht aufbrausend. Auf ein bestehendes Problem fokussiere ich mich. Versuche, es zu lösen. Aber meinen Lösungsweg für dieses Problem teile ich auch mit der Bevölkerung.
Die Unterstützung der Bevölkerung einzuholen, ist mir also wichtig. Denn: Wohin jemand, der kein Demokrat ist, wohin eine autoritäre Regierung die Türkei geführt hat, das haben ja nicht nur wir, sondern mittlerweile auch die ganze Welt gesehen. Deshalb sind wir sechs Oppositionsparteien zusammengekommen, um die Türkei einer autoritären Führung zu entreißen. Und um zu kämpfen für die Einführung aller von der EU vorgesehenen demokratischen Standards.
Dieser Kampf dauert nicht mehr lange. In genau einer Woche wird die Türkei in eine neue Phase eintreten. Politisch sagen wir: Es wird Frühling in der Türkei.
Das Gespräch führte Caren Miosga, tagesthemen