Vereinte Nationen Machtlos in der Krise
2023 war kein gutes Jahr für die Vereinten Nationen. Ob der Krieg in Nahost oder der Ukraine: Die UN wirken hilflos und machtlos. In Afrika enden Blauhelm-Missionen erfolglos. Wie kommen die UN aus der Krise?
Es war ein dramatisches Ringen, am Ende kam wenigstens ein Signal dabei heraus: Der UN-Sicherheitsrat bringt tatsächlich noch eine gemeinsame Resolution zum Nahost-Krieg auf den Weg, wenn auch mit vielen Abstrichen und mühsam ausgehandelten Kompromissen. Das vielbeschworene mächtigste UN-Gremium fordert die Aufstockung der humanitären Hilfe für etwa zwei Millionen Notleidende im Gazastreifen.
Doch auf den eigentlich vorgesehenen Aufruf zu einer sofortigen Feuerpause verzichtet der Sicherheitsrat. Denn nur der abgeschwächte Text erlaubte es Israels Schutzmacht USA, die Erklärung nicht durch ein Veto auszubremsen, sondern sich neben Russland zu enthalten.
Das tagelang verschobene Votum, das Kämpfen um jeden Satz im Resolutionstext - es verbildlicht zum Jahresende für viele nur noch einmal die Hilflosigkeit, in der der Sicherheitsrat steckt. Nach dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine hat der Konflikt im Nahen Osten die Vereinten Nationen gespalten wie selten etwas, sagt auch Deutschlands UN-Botschafterin Antje Leendertse dem ARD-Studio New York schon vor der jüngsten Abstimmung: "Wenn Sie sich die schreckliche Eskalation im Nahen Osten anschauen, dann hat der Sicherheitsrat wirklich quälend lange gebraucht, um hier eine gemeinsame Position zu finden."
Beziehungen zwischen Israel und UN auf dem Tiefpunkt
Wirklich gefunden hat der Rat sie noch immer nicht. Bis auf eine einzige Erklärung für eine humanitäre Feuerpause scheitern dort nun schon seit fast drei Monaten alle Anläufe zu Gaza-Resolutionen. Die USA wehren alles ab, was Israel unangenehm werden könnte und bestehen auf Israels Recht auf Selbstverteidigung. Die arabischen Länder weigern sich, die Hamas und ihre Terrorakte namentlich zu verurteilen. Der Rat ist innerlich zerrissen.
Und Israel, das gerade nicht im Sicherheitsrat ist, isoliert sich auf der Weltbühne immer mehr, sagt der UN-Beobachter des Thinktanks "Crisis Group" Richard Gowan: "Israel hat sehr klar gemacht, dass es alle Resolutionen und jede Kritik von den UN ignorieren wird. Die Israelis glauben, dass das ganze UN-System gegen sie ist."
Seit dem 7. Oktober sind die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Israel und der Weltorganisation an einem Tiefpunkt angelangt. Israels UN-Botschafter Gilad Erdan forderte sogar den Rücktritt von Generalsekretär Antonio Guterres. Der hatte auch Israels Verantwortung zur Einhaltung der Menschenrechte angemahnt.
Alarmiert durch die nach Hamas-Angaben mindestens 20.000 Todesopfer im Gazastreifen, unter ihnen so viele UN-Mitarbeiter wie in bislang keinem Konflikt, aktivierte Guterres im November sogar ein Instrument, das bislang nur eine Handvoll seiner Vorgänger angewendet hatte: Guterres griff auf Artikel 99 der UN-Charta zurück und damit in die Agenda des Sicherheitsrats ein. Der UN-Chef setzte die Diskussion über eine Waffenruhe auf die Tagesordnung. Im Sicherheitsrat scheiterte die Resolution am Veto der USA.
"Die Weltgemeinschaft tut sich dieses Jahr sehr schwer damit, diese Institutionen und Instrumente, die die Vereinten Nationen bereithalten, auch konstruktiv zu nutzen", sagt die deutsche Botschafterin Leendertse.
Kritik an Guterres
Viele UN-Diplomaten aus verschiedensten Regionen frustriert es zunehmend. Sie sprechen von einer Planlosigkeit. Hinter vorgehaltener Hand wächst vielerorts die Kritik am UN-Chef. Das Generalsekretariat schwebe abgekoppelt über den UN-Gremien. Guterres gehe viele Dinge zu schwarzmalerisch und ohne das nötige diplomatische Feingefühl an.
Der langjährige Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen setze zu recht stark auf Humanitäres Engagement. Doch für Blauhelmmissionen sei er taub. Konstruktive Diskussionen, etwa über die Stabilisierung und Entwicklung von Ländern nach Konflikten, treibe er nicht ausreichend voran. Tatsächlich hätten die UN-Organisationen aber gerade nicht viele andere Möglichkeiten, beurteilt UN-Beobachter Gowan: "Generalsekretär Guterres und das ganze UN-System konzentrieren sich vorerst auf humanitäre Hilfe - ob in Afghanistan oder in Gaza. Das ist es, was die UN können, aber sie können keine Kriege stoppen."
Keine Erfolge bei Konfliktlösungen in diesem Jahr
Erfolgreich hatte Guterres in der Ukraine-Krise das Getreideabkommen mitverhandelt, um den Schaden des russischen Angriffskriegs von den ärmeren Ländern weltweit abzuwenden. Doch im Sommer kündigte Moskau den Deal zur Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine wieder auf. Gerade in vielen Ländern Afrikas und Asiens schwindet schon länger die Bereitschaft, für den Krieg in Osteuropa zu bluten.
Zudem schwelen Konflikte in West- und Zentralafrika weiter. 2023 sei auch dadurch eines der schwersten Jahre seit Langem für die UN gewesen, sagt Richard Gowan: "Der große Riss zwischen Russland und den westlichen Ländern im Sicherheitsrat ist noch größer geworden. Ich denke, wir haben uns alle auf die Ukraine und Gaza konzentriert." Aber es sei auch wichtig zu sehen: "Die UN haben es nicht geschafft, einen Krieg im Sudan zu stoppen. UN-Friedenstruppen mussten auch Mali verlassen." In diesem Jahr hätten es die UN nicht geschafft, irgendeinen Konflikt auf ihrer Agenda zu lösen.
UN in einer Vertrauenskrise
Geopolitische Verschiebungen, der zerrüttete Sicherheitsrat, das Dilemma zwischen Moral und diplomatischen Zusagen: Der Handlungsspielraum der Weltorganisation werde von einer tiefen Vertrauenskrise eingeengt, sagt Gowan. Dabei könnten die Vereinten Nationen 2024 zumindest in Gaza große Aufgaben übernehmen: "Den Wiederaufbau unterstützen, Basisdienste für die Palästinenser leisten", zählt Gowan auf. Im Gespräch sei auch, dass die UN eine provisorische Verwaltung für den Gaza stellen. "Aber das bezweifle ich."
Doch wenn jemand dort die Autorität habe, um den Menschen im Gazastreifen zu helfen, dann seien es die UN-Organisationen, meint der langjährige Beobachter der "Crisis Group".
Eine Stärke, die Kritiker der Vereinten Nationen oft übersehen würden, sagt auch Deutschlands Botschafterin Leendertse. Denn die UN seien weltweit vor Ort, gerade mit ihren Entwicklungs- und humanitären Instrumenten. "Ich denke, dass wir beim humanitären Engagement anfangen müssen, wenn wir uns überlegen, ob es eigentlich gerechtfertigt ist, die Vereinten Nationen an sich zu kritisieren oder ob das nicht mehr an den Mitgliedsstaaten liegt, die die UN nicht nutzen oder nicht genügend unterstützen."
Deutschland - einer der größten UN-Unterstützer
Deutschland hat sich diese Unterstützung weiter auf die Fahne geschrieben: als zweitgrößter Beitragszahler zum gesamten UN-System und auch als zweitgrößter bilateraler Geber humanitärer Hilfe. Und in diesem Jahr gab es dann auch etwas zu feiern: 50 Jahre Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen. Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock waren am Rande der Vollversammlung mit einer Mammut-Delegation zur Feier an den East River gereist.
Die satte Präsenz-Party war auch der Startschuss für die nächste Bewerbungsrunde. Deutschland will ständiges Mitglied im Sicherheitsrat werden - doch das ist Zukunftsmusik. Im neuen Jahr startet es erstmal gegen Österreich und Portugal in die offizielle Bewerbungsrunde für den nächsten rotierenden Sitz, der 2027 frei wird.
Auf dem Plan für 2024 steht außerdem zusammen mit Namibia die Vorbereitung eines Zukunftsgipfels. Dort soll es vor allem darum gehen, Instrumente und Netzwerke zu bilden, um Konflikte zwischen den Großmächten und Krisen besser bewältigen zu können.