Vom Hoffnungsträger zum Transitland Arabischer Herbst in Tunesien?
Tunesiens Präsident Saied regiert zunehmend autoritär und hetzt gegen Migranten. Die Bevölkerung, die einst den Arabischen Frühling auslöste, reagiert lethargisch, denn sie hat ganz elementare Nöte.
Im Souk in Tunis ist normalerweise kein Durchkommen - enges Gedränge, Stimmengewirr. Die Verkäufer preisen ihre Waren an. Aber niemand kommt an den Stand von Fischverkäufer Kamel El Tunsi.
Denn sein Fisch kostet derzeit 23 Dinar, umgerechnet sieben Euro pro Kilo. Es ist schon fast elf Uhr und er hat noch nichts verkauft. "Zu diesen Preisen kann niemand einkaufen", sagt er, "eine Misere". Später wird er den Fisch zum Spottpreis verkaufen, weil ihm nichts anderes übrig bleibt.
Fahd Ben Amor kauft hier seit Jahren fast täglich Fisch, Obst und Gemüse. So wenig hat er selten für sein Geld bekommen. Er rechnet uns vor, wie weit er mit seinem Verdienst kommt: "Ich verdiene neun Euro am Tag, wenn ich ein Kilo Fisch kaufen würde, wäre mein Geld fast weg."
Wirtschaft am Boden
So geht es vielen Menschen in Tunesien. Das Land, in dem mit Protesten und Revolution der Arabische Frühling begann, galt als demokratischer Hoffnungsträger. Nun liegt die Wirtschaft am Boden. Vor allem deshalb sind viele Menschen enttäuscht von der Politik. Und viele junge Tunesier würden am liebsten das Weite suchen.
Majddedine Badri, 22, lebt in Sidi Bouzid im armen Hinterland Tunesiens. Er hat schon zweimal versucht, mit einem Schlepperboot zur italienischen Insel Lampedusa zu kommen. Das erste Boot kenterte, fast wäre er ertrunken, das zweite legte erst gar nicht ab. 2500 Euro für nichts. "Ich will dorthin! Um zu arbeiten, etwas aufzubauen, vor allem, um meiner Familie zu helfen. Damit wir endlich aus der Armut herauskommen", sagt Badri. Er will das hohe Risiko erneut eingehen.
Menschen sind desillusioniert
Die Menschen wirken resigniert, und trotzdem gibt es auf Tunesiens Straßen keinen Aufschrei der Massen. "Man spürt die Müdigkeit der Menschen in Tunesien, sie sind desillusioniert, es gibt eine große Politikmüdigkeit", erklärt Politologe Rdissi Hammadi.
"Und Politik ist auch nicht ihr Hauptanliegen. Wenn die Tunesier morgens aufstehen, überlegen sie nicht, wie das Land regiert wird, sondern fragen sich, wo sie das Nötigste zum Leben her bekommen, welcher Preis um wieviel gestiegen ist und wie sie im Alltag über die Runden kommen."
Immer mehr Macht für den Präsidenten
Die Politik hat offenbar keinen Plan, wie die Wirtschaft aus dem Tief kommt. Präsident Kais Saied ist stattdessen damit beschäftigt, seine Macht auszubauen. 2022 löste er das Parlament auf und schränkte dessen Rechte ein.
Den Ausbau seiner eigenen Macht ließ er sich vom Volk per Verfassungsreferendum absegnen. Im Dezember wurde das entmachtete Parlament neu gewählt, mit einer Wahlbeteiligung von gerade mal elf Prozent. Deutlicher kann ein Volk seine Politikverdrossenheit kaum zeigen.
Seit Februar gibt es eine Verhaftungswelle: Diverse Regierungskritiker und Journalisten sitzen mittlerweile in Haft, ebenso der Chef der größten Oppositionspartei.
Was heißt all das für den Zustand der tunesischen Demokratie? Der Politologe Hammadi befindet, der Staat werde immer autoritärer und schränke die Freiheiten immer mehr ein: "Wir sehen den Anfang einer Art repressiven Welle, die immer wieder neue Gruppen trifft." Erst seien es die Politiker gewesen, danach die Journalisten. "Ich habe keine Ahnung, wer als nächstes dran ist", so Hammadi.
Hetze gegen Migranten
Menschen, die aus Ländern südlich der Sahara kommen und in Tunesien leben, sind derzeit nicht gut auf den Präsidenten zu sprechen. Im Februar hatte Saied in einer Rede von "Horden illegaler Migranten" gesprochen. Die Rede schlägt bis heute Wellen.
In der Hafenstadt Sfax, wo seit jeher die illegalen Boote Richtung Lampedusa starten, wollen seitdem noch mehr Menschen die gefährliche Reise starten. Laut den italienischen Behörden kamen in den ersten vier Monaten 24.000 Menschen aus Tunesien an den italienischen Küsten an, fast so viele wie im ganzen Jahr 2022.
Viele der Migranten aus den Ländern südlich der Sahara klagen über Anfeindungen in Tunesien. Jakite Awua aus Mali lebt seit sieben Jahren im Land. Die ersten Jahre seien gut gewesen. Nach der Rede des Präsidenten sei sie jedoch mit Mann und Kindern aus ihrer Wohnung geflogen. Ein Anwalt sagte ihr lapidar, da könne man nichts machen.
Transitland nach Europa
"Meine Kinder, mein Mann und ich haben zwei Nächte auf der Straße geschlafen. Das Leben in Tunesien ist nicht mehr leicht für uns", sagt sie. Viele hier leben mittlerweile auf der Straße, versuchen, in Schlepperboten nach Europa zu gelangen.
Hama Hamadi von der Hilfsorganisation Terre des Hommes versucht, ihnen zu helfen. Aber wegen der schlechten Wirtschaftslage gehe es auch den Tunesierinnen und Tunesiern schlecht. Tunesien sei deshalb zur Zeit vor allem eines: ein Transitland nach Europa.
Dabei hätte das Land durchaus Potential, auch jenseits der bereits vorhandenen Tourismusbranche. Tunesien könnte als Land mit viel Sonne und Platz erneuerbare Energien produzieren. Aber die bürokratischen Mühlen mahlen langsam und die aktuelle politische Lage trägt wenig zur Motivation von Investoren bei.
Im Markt in Tunis gibt es trotzdem einen, der fest an eine sonnige Zukunft Tunesiens glaubt: Zitronenverkäufer Hamza Ayari hält sich nebenbei als Fotograf über Wasser. "Tunesien ist kein einfaches Land, aber wir haben viel Geschichte. Warum soll ich nach Europa? Ich liebe Tunesien. Wir haben Meer, Sonne, Fisch. Man müsste den Tourismus ausbauen." Eine hoffnungsfrohe Stimme - aber auch an Ayaris Marktstand kauft an diesem Morgen kaum jemand etwas ein.