Tunesiens Präsident Saied Auf dem Weg zum Diktator?
Tunesiens Präsident Saied lässt über eine neue Verfassung abstimmen, die ihm umfassende Rechte geben würde. Ist der Präsident, der Regierung und Parlament schon entmachtet hat, auf dem Weg, ein Diktator zu werden?
Spät an einem Abend im Oktober 2019 steht fest: Tunesiens neuer Spitzenmann heißt Kais Saied. Der damals 61-jährige hochgewachsene Mann bezeichnet auf der Pressekonferenz das Ergebnis als kleine Revolution innerhalb des Rechtsstaates. Nur zwei Jahre später, im Juli 2021, löst Kais Saied das Parlament auf, regiert monatelang per Dekret und ernennt eine neue Regierung ohne sichtbare Macht.
Er habe sich seit dem Wahlkampf nicht verändert, sagen manche in Tunesien. Immerhin hat Saied damals schon gesagt: Das bestehende politische System passe nicht zu Tunesien. Politische Parteien sieht er als ein Auslaufmodell und sagt voraus, dass sich in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten "die Völker anders organisieren" würden. Der "Hauptakteur" sei die Zivilgesellschaft.
Saieds Plan bei Amtsantritt: das Land dezentralisieren. Er schlägt dafür eine Art Bundesrat vor: Tunesiens Regionen müssten auch auf nationaler Ebene vertreten sein, gleichberechtigt gegenüber dem Parlament.
Erfolgreich mit nüchterner Werbung
Saied ist ein unauffälliger Mann. Genauso machte er 2019 auch Wahlkampf: nüchtern und schmucklos. Der Verfassungsrechtler ist ein Außenseiter in der Welt der tunesischen Politiker, war nicht schon x-mal Minister. Genau das katapultierte ihn wohl an die Spitze der Präsidentschaftswahlen 2019.
Saied präsentierte sich als unabhängig von etablierten Machtzirkeln, denen die Tunesier misstrauisch gegenüberstehen. "Ich war immer unabhängig und das bleibe ich auch", sagte er und versprach, keine Parteikarriere anzustreben und auch nicht nach "nach einem politischen Posten" zu suchen: "Für mich geht es um eine Pflicht gegenüber meinem Vaterland Tunesien."
Im Amt unzugänglich
Damals zeigte sich Saied noch nah an den Menschen, sprach von einem neuen Vertrauensverhältnis zwischen Gewählten und Wählern. Als Präsident ist er weniger zugänglich - er kommuniziert wie aus einem Elfenbeinturm, und wenn, dann über soziale Medien, am liebsten spät abends oder nachts.
Beliebt bleibt Saied trotzdem. Mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten haben ihn 2019 gewählt - vor allem junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren und Akademiker. Dabei gelte Saied als konservativ, sagt der Jurist Mehdi Elleuch, Analyst bei Legal Agenda, einem unabhängigen, im Libanon gegründeten Recherchezentrum.
Deutliche Bezüge zur Religion
So hat sich Saied gegen die Abschaffung der Todesstrafe ausgesprochen, genauso will er Homosexualität weiterhin unter Strafe stellen. Das, betont Elleuch, spiegele sich auch in seinem Verfassungsreferendum wider: In Saieds Verfassungsprojekt gebe es "viel mehr Referenzen zur Religion und weniger Garantien eines säkularen Staates als in der Verfassung von 2014". Saied sei "mindestens genauso konservativ wie die islamisch-konservative Ennahda-Partei". Die hatte Saied 2021 aus der Regierung geworfen.
Ein Profiteur vieler Krisen
Elleuch sagt, Tunesiens Vielfachkrisen hätten Saied in die Hände gespielt: das fragmentierte und entscheidungsunfähige Parlament, die Corona-Krise, das Misstrauen gegenüber der Machtelite. Der Ausnahmezustand habe ihm erlaubt, mit seinem Umstrukturierungs-Projekt des Staates zu beginnen.
Das Einsetzen der neuen Regierungschefin Nejla Romdhane - immerhin die erste Frau an einer Regierungsspitze eines arabisch geprägten Staates - sehen viele nur als Versuch, europäische Partner zu beschwichtigen. Öffentlich sprechen und Entscheidungen treffen - das überlässt Tunesiens Regierungschefin nämlich dem Präsidenten.
Das Ergebnis wertet Elleuch als verheerend für die Demokratie im Land: Saieds neue Verfassung solle dem Präsidenten weitreichende Befugnisse einräumen, ein autoritäres System. Tunesien habe einen Präsidenten, der "die ganze Macht hat, ohne Verantwortung und ohne echte Kontrolle", sagt der Experte; einen Präsidenten, "der selbst am Ende seiner Amtszeit Wahlen verweigern kann". Und die Tunesier könnten nichts dagegen tun, denn es gebe keinen institutionellen Mechanismus in Saieds neuer Verfassung, die ihn aufhalten könnte.
Ein Geburtsfehler der Revolution
In Saieds Staatsumbau sehen viele auch einen Geburtsfehler der jungen tunesischen Demokratie nach der Revolution. Mehr als zehn Jahre nach dem sogenannten arabischen Frühling gibt es noch kein Verfassungsgericht, das dem Präsidenten Einhalt gebieten könnte.
Trotzdem: Bislang ist Saied immer noch beliebt. Die als korrupt verschriene politische Elite, die sinkende Kaufkraft und hohe Arbeitslosigkeit machen ihn für viele zum letzten Rettungsanker. Es wird erwartet, dass sein Verfassungsreferendum durchgeht - wenn auch gegebenenfalls mit geringer Wahlbeteiligung.