Überschwemmungen in Deutschland "Hochwasserschutz beginnt am Oberlauf der Flüsse"
Viele Gegenden in Deutschland sind von starken Regenfällen betroffen. Riesige Flächen sind überschwemmt. Was man im Zusammenspiel mit der Natur besser machen könnte, erklärt Gewässerökologe Wolter auf tagesschau.de.
tagesschau.de: Einige Regionen in Deutschland erleben gerade ein Tiefdruckgebiet nach dem anderen, das sich entlädt. Wir sehen überschwemmte Gebiete, Schutzmaßnahmen, Wälle aus Sandsäcken. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Christian Wolter: Es ist natürlich immer sehr, sehr problematisch für die Leute vor Ort. Aber ich denke dann natürlich auch immer daran, dass es so etwas in der Vergangenheit auch schon gegeben hat und dass sehr viele Schäden und Probleme, die wir jetzt haben, auch dadurch entstanden sind, dass wir uns angewöhnt haben, über die Jahre die Flussauen zuzubauen.
Christian Wolter arbeitet für das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Er leitet die Forschungsgruppe "Fließgewässerrevitalisierung". Seit 2008 ist er Sprecher des Programmbereichs Mensch-Gewässer-Interaktionen.
Es fehlen die Überflutungsflächen
tageschau.de: Was ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben?
Wolter: Das Problem ist einmal vor Ort der Niederschlag. Die stark verdichteten Böden können das Wasser gar nicht mehr so schnell aufnehmen. Dann fehlen entlang der Flüsse die flussbegleitenden Moore, die historisch entwässert wurden.
Und wenn man sich zum Beispiel den Auenzustandsbericht anschaut und dann liest, dass mehr als 70 Prozent der Auen entlang der Flüsse funktionell nicht mehr vorhanden sind, dann bedeutet das natürlich auch, dass mehr als 70 Prozent der historischen Retentionsflächen, wo das Wasser hinfließen konnte, nicht mehr vorhanden sind. Das schafft lokal durchaus Probleme mit Überflutungen. Und dann ist der Wasserrückhalt in der Landschaft eingeschränkt, zumindest kollidiert er sehr stark mit der menschlichen Nutzung dort.
Frost könnte die Lage entschärfen
tageschau.de: Kann es sein, dass der Frost, der jetzt so langsam von Norden kommt, ein bisschen helfen kann, zum Beispiel, was die Festigkeit der Deiche angeht?
Wolter: Inwieweit es reicht, dass Deiche durchfrieren oder dass sie zumindest oberflächlich anfrieren und dass die Stabilität dadurch gefördert wird, kann ich nicht beurteilen. Auf jedem Fall wird das Wasser auf den Wiesen durch den Frost fixiert und läuft nicht mehr in die Gewässer und führt nicht zu einer Steigerung der Hochwasserwelle. Es wird Wasser ablaufen, und der Frost wird dafür sorgen, dass weniger Wasser nachläuft. Also sollte sich die Hochwassersituation entspannen.
Je gerader der Flusslauf, desto schneller das Wasser
tagesschau.de: Was kann man nun tun, damit die Gefahr durch so große Regenmengen geringer wird?
Wolter: Was immer wieder vergessen wird, ist, dass der Hochwasserschutz an den Oberläufen der Flüsse anfängt. Wir haben das Problem, dass nicht nur die großen Wasserstraßen begradigt sind, sondern auch sehr viele Flussoberläufe begradigt wurden, um in den Bergen Niederschlag möglichst schnell abzuführen. Und je gerader die kleinen Nebengewässer sind, umso schneller ist natürlich dann auch eine Wasserwelle beim Unterlieger, also in den Gegenden stromabwärts. Und wenn das sehr schnell geht, dann haben die Unterlieger am Ende kaum noch eine Chance, darauf zu reagieren.
"Man müsste das Wasser verlangsamen"
Man hat bislang immer versucht, dem Hochwasser mit neuen, ausgefeilteren und höheren Deichen zu begegnen. Aber die richtige Lösung wäre eigentlich, dort, wo die ersten Niederschläge entstehen, in den Oberläufen das Wasser wieder zu verlangsamen, zurückzuhalten, sprich diese Oberläufe wieder zu remäandrieren, wieder Inseln im Gewässer und Nebengerinne zuzulassen.
Historisch ist es so, dass in unseren Breiten das Narrativ, dass ein Fluss nur einen großen Flusslauf hat, überhaupt nicht dem Naturzustand entspricht. Die Gewässer waren alle Mehrbettgerinne, unterbrochen mit großen Lachen, so dass die Landschaft als Wasserspeicher gewirkt hat und dadurch der Wasserabfluss deutlich verzögert war. Und Hochwasserwellen haben sich nicht so hoch aufgebaut und sind nicht so schnell durchgerast, so dass Unterlieger auch die Möglichkeit hatten zu reagieren.
Man müsste tatsächlich großräumig in den Flusslandschaften revitalisieren, dass der Abfluss verzögert wird und das nicht durch Stauhaltung, sondern durch natürliche Flusslandschaftselemente wie Auen, Inseln und Nebengerinne.
"Nicht die Gewässer eindeichen, sondern die Infrastruktur und die Städte"
tagesschau.de: Wenn wir jetzt sagen, wir wollten die Flüsse renaturieren, welchen Preis müssten wir dafür zahlen? Wie würde sich dann unser Leben dadurch verändern? Was würde das für die Menschen dann bedeuten?
Wolter: Wenn wir uns zuerst die Nutzung angucken, da ist auf den großen Flüssen die Schifffahrt, die in der Vergangenheit ja sehr stark darauf hingearbeitet hat, dass wir eben diese Einbettgerinne haben und das möglichst lange bestimmte Fahrwassertiefen gewährleistet sind. Eine zweite Nutzung ist die landwirtschaftliche Nutzung der Auen und eine dritte ganz grobe Nutzung sind diverse Infrastrukturen, Städte und so, die auch in den Auen entstanden sind.
Und im Prinzip gingen die Überlegungen dahingehend, dass man an bestimmten Wasserstraßen, die für den Güterverkehr nicht mehr von so hoher Bedeutung sind, mehr Seitenerosion zulässt, dass man sich den Fluss wieder in natürlichen Strukturen entwickeln lässt. Dann würde man in diesen Gewässern auf die kommerzielle Transportschifffahrt verzichten.
Wenn man die Auen stärker überfluten lässt, Deiche zum Beispiel rückverlegt, würde man lokal landwirtschaftliche Nutzung verlieren, wobei es tatsächlich - platt gesprochen - fast egal ist, ob ich die Landwirte flächendeckend für Ernteausfälle wegen Dürre entschädige oder weil die Felder überflutet sind.
Eine andere Möglichkeit würde natürlich ein Umdenken erfordern. Wir haben jetzt zigtausende Kilometer Fließgewässer eingedeicht, um Infrastruktur in den Auen, die dort bebaut sind, zu schützen. Es wäre durchaus überlegenswert, Auen zu revitalisieren und nicht ganze Gewässerlandschaften einzudeichen, sondern die zu schützende Infrastruktur, die Städte.
Chancen für die Artenvielfalt
tagesschau.de: Welche Auswirkungen kann denn die Renaturierung von Flüssen noch haben, außer auf den Hochwasserschutz? Wären das gute Nachrichten für den Artenschutz, zum Beispiel für die Forelle, die seit kurzem in ihrem Bestand als gefährdet eingestuft ist?
Wolter: Also grundsätzlich ist das für die Produktivität der Gewässer eine gute Nachricht, immer vorausgesetzt, dass es auch Auen gibt, die überflutet werden, sodass wir langsam strömende Bereiche auf der Fläche haben, wo schwimmschwache Fischarten überleben können. Die Forelle wäre ein immenser Profiteur von natürlichem Hochwasserschutz, der in den Oberläufen beginnt. Sie ist eine Art der Flussoberläufe, und wenn die windungsreicher werden, strukturreicher werden, viel mehr Abflusshindernisse aufweisen würden, also Totholz, große Steine, tiefe Kolke, breite Stellen, schmale Stellen, kleine Stromschnellen, dann wäre das für die Forelle top, dann würde die wieder richtig Habitate gewinnen.
Der zweite Aspekt sind die Mehrbettgerinne, die wir an den großen Gewässern vielfach verloren haben. Mehrere Flussläufe haben im natürlichen Zustand unterschiedliche Tiefen und Breiten und damit auch unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten, so dass dort selbst bei Niedrigwasser zum Teil Stillwasserbereiche entstehen, aber auch Bereiche, wo wir turbulentes strömendes Wasser haben, was dann für Arten wie die Forelle, die hohe Sauerstoffansprüche hat, sehr gut ist.
Revitalisierung der Gewässer dient dem Wasserhaushalt
Und der letzte Aspekt, der für die Revitalisierung der Gewässer noch wichtig ist: dass es nicht nur dem natürlichen Hochwasserschutz dient, sondern vor allem dem Wasserhaushalt in der Landschaft, dass eben mehr Wasser zurückgehalten wird, oberflächennahe Grundwasserspeicher aufgefüllt werden, möglichst Moore auch revitalisiert werden. Dass in Zeiten niedriger Wasserzufuhr, wenn es natürlicherweise im Sommer weniger regnet, noch Wasser in der Landschaft ist, das dann solche Regendefizite puffern kann.
Das Gespräch führte Bernd Großheim, tagesschau.de.