Maßnahmen gegen Russland Wo sind die Lücken bei den Sanktionen?
Bundeswirtschaftsminister Habeck will die Umgehung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland deutlich erschweren. Aber wieso gibt es da überhaupt Lücken?
"Wir haben die Hoffnung, dass das, was wir an Regeln haben, beachtet wird." Der Kanzler lächelt freundlich. Sein Gegenüber, der armenische Premierminister Nikol Paschinjan - diese Woche zu Besuch in Berlin - antwortet ausweichend, als er darauf angesprochen wird, ob Armenien westliche Sanktionen gegen Russland umgeht. "In der ganzen Welt verändern sich die Zahlen, und auch die Logistikketten verändern sich." Aber klar sei: "Legalität ist uns sehr wichtig."
Sanktionsumgehung via Nachbarländer?
Die Zahlen verändern sich - in der Tat. So sind die deutschen Exporte nach Armenien 2022 um mehr als 165 Prozent gestiegen. Das zeigen Daten des statistischen Bundesamtes mit Bezug auf den Warenwert. Zugleich, so aktuelle Studien der Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und der US-amerikanischen Denkfabrik Silverado, sind die Exporte von Armenien nach Russland stark nach oben gegangen.
Ein Beispiel für veränderte Warenströme, die Fachleute aufhorchen lassen. Vergleichbares lässt sich laut EBWE auch für Kasachstan und Kirgistan beobachten, die zusammen mit Armenien, Belarus und Russland die Eurasische Wirtschaftsunion bilden. Diese Länder haben einen Binnenmarkt mit Zollunion, auf dem Güter - ähnlich wie in der EU - vereinfacht gehandelt werden können.
Auch Georgien steht im Fokus der Experten, weil es die wichtige Landverbindung zwischen Armenien und Russland, aber auch zwischen der Türkei und Russland darstellt. Zudem, so Silverado, spielen auch andere Nachbarländer wie Usbekistan eine Rolle bei einer potenziellen Sanktionsumgehung. Eindeutig beweisen lässt sich das meist nicht, aber die Hinweise mehren sich. Fakt ist: Während der Handel zwischen Russland und der EU stark zurückgegangen ist, haben Nachbarländer ihre Importe aus Europa und ihre Exporte nach Russland hochgefahren.
"Nicht so scharf, wie wir denken"
Laut EBWE bezieht sich der gestiegene Warenhandel vor allem auf Produkte, die den westlichen Russland-Sanktionen ganz oder teilweise unterliegen - ein weiteres Indiz, dass in der Nachbarschaft Umschlagplätze für sanktionierte Waren Richtung Russland entstanden sind.
Besonders stark nach oben gingen die europäischen Exporte in die Kaukasusländer beziehungsweise nach Zentralasien für Güter wie Pumpen und Kompressoren, Fahrzeuge beziehungsweise Ersatzteile, Computer - und auch Waschmaschinen, zeigt die EBWE-Auswertung. Es geht also um Produkte, die zivil genutzt werden, aber ebenso militärisch relevant sein könnten - zum Beispiel, wenn Einzelteile wie Mikroelektronik oder Chips ausgebaut werden.
"Unsere Sanktionen sind nicht so scharf, wie wir denken," sagt der Geoökonom Tobias Gehrke vom European Council for Foreign Relations. Vor allem wenn es um Drittländer gehe, gebe es bislang kaum Handhabe.
Habeck will gegensteuern
Der Bundeswirtschaftsminister will das ändern, hat vergangene Woche dazu neue Vorschläge gemacht - während in Brüssel gerade mühsam das zehnte Sanktionspaket auf den Weg gebracht wurde. Dass Robert Habeck gleich nachlegt, hat auch mit den auffälligen Handelsdaten zu tun. "Plausibel ist," so Habeck, "dass hier tatsächlich zumindest billigend die Umgehung von Sanktionen in Kauf genommen wird. Und das wiederum können wir nicht in Kauf nehmen."
Nur: Die verdächtigen Länder nennen will er bislang nicht. Mit einer sogenannten "Endverbleibserklärung" will der Wirtschaftsminister erreichen, dass sanktionierte Waren, die in Drittländer exportiert werden, auch wirklich dort bleiben und eben nicht doch noch in Russland landen: in Habecks Worten eine "nicht-nach-Russland-weiter-Exportiererklärung".
Außerdem sollen Unternehmen in diesen Ländern noch konsequenter auf eine schwarze Liste kommen, wenn sie sanktionierte Waren nach Russland weiterverkaufen. Und jedermann - egal ob in Deutschland oder dem Importland - soll verpflichtet werden, Auffälligkeiten zu melden.
Nur kleiner Ersatz für sanktionierte Importe
Für Sanktionsexperte Gehrke sind die Vorschläge ein guter Ansatz. Vor allem Drittstaaten stärker in den Blick zu nehmen, sei der Anfang eines Paradigmenwechsels. Die USA seien da schon weiter, aber dass auch Deutschland und die EU das angingen - überfällig. Einfach werde die Kontrolle solcher Vorgaben sicher nicht, so Gehrke, aber auch die "abschreckende Wirkung zählt".
Aus seiner Sicht sind Länder wie Armenien nur ein Teil der Geschichte. Er glaubt nicht, dass es dort im größeren Ausmaß eine staatlich unterstützte Sanktionsumgehung gebe. Auch weil Armenien engere Kontakte zur EU anstrebt, wie der armenische Ministerpräsident Paschinjan ebenfalls betont. Eine Rolle spielen aber möglicherweise russische Staatsbürger in Armenien und Unternehmenskontakte aufgrund der direkten Nachbarschaft.
Zudem sind die Im- und Exporte der Länder im Kaukasus und in Zentralasien für Russland wohl nur ein kleiner Ersatz für die sanktionierten Direktimporte aus Europa, betonten auch die Fachleute der Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Größtenteils weicht Russland nun auf Waren aus China aus, das zeigen Datenanalysen der EBWE und der Free Russia Foundation (FRF).
Welche Rolle spielt die Türkei?
Es gibt aber noch weitere "Gewinner" mit Blick auf fragwürdige Handelsströme, etwa die Vereinigten Arabischen Emirate und - und aus deutscher beziehungsweise europäischer Sicht besonders heikel - die Türkei. Laut der Auswertungen von EBWE, Silverado und FRF sind auch die Exporte der Türkei nach Russland sowie nach Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Georgien im vergangenen Jahr auf Rekordwerte gestiegen.
Das bestätigen auch Zahlen, die gerade die türkische Statistikbehörde veröffentlicht hat. Danach hat Russland China als größter Handelspartner der Türkei abgelöst, und türkische Exporte nach Russland haben sich vergangenes Jahr fast verdoppelt. Den Datenanalysen von Silverado und FRF zufolge sind unter anderem bei Fahrzeugen, elektronischen Artikeln und Halbleitern die Werte steil gestiegen - und wiederum auch bei Waschmaschinen und Kühlschränken, deren Export nach Russland sprunghaft in die Höhe gegangen ist.
Gesteigertes Interesse an Mikrochips?
Die Vermutung von Experten auch hier: Die Elektronik und vor allem die darin verbauten Mikrochips könnten von besonderem Interesse für die russische Armee sein. Zudem zeigen Recherchen etwa des ARD-Politikmagazins Monitor, dass es offenbar Fälle gibt, in denen deutsche Firmen möglicherweise durch Briefkastenfirmen in der Türkei elektronische Bauteile nach Russland exportiert haben.
Die Türkei ist eng verbandelt mit Russland - aber eben auch NATO-Mitglied und wichtiger Verbündeter der Europäischen Union. Sie wird nicht nur bei der Sicherheitspolitik als Partnerin gebraucht, sondern auch beim Thema Migration. Dass der deutsche Wirtschaftsminister bei seiner Anklage gegen Sanktionsumgeher bislang nur zurückhaltend von ominösen "Drittstaaten" spricht, könnte also auch damit zu tun haben.