Niedrigzinspolitik der EZB Neue Chance oder kalte Enteignung?
Die EZB hat den Leitzins noch weiter gesenkt. Viele Experten warnen daher vor einer "Enteignung der Sparer". Die müssten nun für die Euro-Rettung zahlen. Doch es gibt auch Fachleute, die den EZB-Kurs als Chance sehen.
"Niedrigzinsen enteignen Sparer!" Mit drastischen Worten warnen die Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft sowie des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV) in einem gemeinsamen Appell davor, dass die EZB die Zinsen noch weiter senkt. Dadurch würden große Lücken in die Altersvorsorge künftiger Rentner gerissen, meinen die Präsidenten.
"Gerade die Menschen in Deutschland legen ihr Geld traditionell sicher an und leiden daher besonders unter den Niedrigzinsen", betont DSGV-Präsident Georg Fahrenschon. Allein den deutschen Sparern entgingen jedes Jahr Milliarden Euro an Zinseinnahmen.
Ökonomen kritisieren zudem, dass insbesondere die Masse der Kleinsparer von den Niedrigzinsen betroffen sei, weil sie das Geld auf Girokonten und Sparbüchern einzahle. Wer genug Geld habe, könne in Aktien oder Immobilien investieren - und so sogar vom niedrigen Zinsniveau profitieren. Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), spricht gegenüber tagesschau.de angesichts dieser Entwicklung von einer indirekten Steuer auf Erspartes. Dies treffe insbesondere dann zu, wenn möglicherweise Negativzinsen von Banken an die Sparer weitergegeben würden.
Hintergrund ist, dass die EZB erstmals einen Strafzins für Bankeinlagen erhebt. Die Idee dahinter ist, dass die Banken bei einem negativen Zinssatz das Geld lieber an Unternehmen verleiht. Straubhaar beklagt daher ein "Diktat der Notenbanken". Der freie Kreditverkehr werde dadurch verzerrt, im schlimmsten Fall nahezu ausgehebelt. "Das ist die große Crux, wenn die EZB noch vorschreiben will, was mit dem Geld passieren soll" - also wenn es beispielsweise an mittelständische Unternehmen weitergegeben werden muss.
Eine neue "solide Ära"
Der massiven Kritik widerspricht Thomas Fricke. "Vor lauter Schimpfen über niedrige Sparrenditen scheinen Ursache und Wirkung durcheinander zu geraten", sagt der Wirtschaftsjournalist gegenüber tagesschau.de. Es existiere generell kein Anspruch auf Zinsen. Zudem sei es nicht so, dass es nur in der Euro-Zone derzeit niedrige Zinsen gebe. "Das ist fast weltweit so", betont Fricke. Dies sei "auch typisch für die Zeit nach dem Platzen einer Finanzblase". Die Politik der EZB sei angesichts der Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er- und der Krise in Japan der 1990er-Jahre der richtige Weg, um den Schuldenabbau nicht noch zu behindern.
Leider werde den Sparern nun die Rechnung für die Spekulationen der vergangenen Jahre präsentiert, meint Fricke. Viel zu lange sei die Illusion vermittelt worden, man könne "mit mutigem Geldanlegen sechs oder acht Prozent Renditen erzielen und die Rente finanzieren". Das könne auf Dauer nicht aufgehen, wenn die tatsächliche Wirtschaftsleistung nur um drei Prozent wachse. Da müsse man nun realistischer werden.
Der ehemalige Redakteur der "Financial Times Deutschland" und heutige Leiter des Internetportals "Wirtschaftswunder" sieht daher Chancen durch die niedrigen Zinsen, spricht von einem möglichen Zeitenwandel hin zu einer soliden Ära. Die Renditen auf Finanzanlagen seien lange so attraktiv gewesen, dass Investoren ihr Geld "lieber in das x-te Derivat steckten, als es einem Mittelständler oder Start-up zu geben". Dieser Hang zur virtuellen Anlage habe "uns im Laufe der Zeit eine Dominanz der Finanzwirtschaft beschert, die es etwa zu Wirtschaftswunder-Zeiten nicht gab. Die Banken müssten sich nun wieder darauf konzentrieren, "denen Geld zu geben, die in die Zukunft investieren und Wohlstand sichern - statt Hochfrequenzhandel ohne erkennbaren Nutzen zu betreiben".
"Private Altersvorsorge wird wichtiger"
Mit historischen Vergleichen zum Wirtschaftswunder kann der Ökonom Jürgen Stark wenig anfangen: Die Situation sei insbesondere in Europa eine andere als nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt der ehemalige Chefvolkswirt der EZB gegenüber tagesschau.de. "Das wirtschaftliche Wachstum ist geringer als damals und Europa hat sein demographisches Problem mit einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung zu bewältigen."
"Die private Altersvorsorge erhält zunehmendes Gewicht". Daher müssten vorausplanende Anleger "die reale Entwertung ihrer Ersparnisse durch zusätzliche Rücklagen kompensieren, wenn sie ihren Lebensstandard im Alter sichern wollen". Die Folge seien Konsumverzicht und niedrigeres Wachstum.
Geld unter das Kopfkissen?
Was sollen die Sparer also konkret tun? Ihre Rücklagen auflösen und konsumieren, weil das Geld sonst an Wert verliert - oder noch mehr fürs Alter zurücklegen? Der Ökonom Stark meint: "Generell gelten derzeit zwei Grundsätze: 1. breite Streuung und 2. Sicherheit vor Rendite." HWWI-Chef Straubhaar betont, es gebe für die meisten Deutschen keine Alternative zum Vorsorgesparen für das Alter. Jetzt müsse man eben eher noch mehr zurücklegen. Wenn es tatsächlich Negativzinsen geben sollte, müsse der Sparer sein Geld als Notmaßnahme von der Bank holen - und eine Etage tiefer ins Schließfach legen.
Thomas Fricke hält das für Panikmache. Es sei "Quatsch", dass die Sparer enteignet würden. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei den niedrigen Zinsen um ein "vorübergehendes Phänomen" in "einer sehr außergewöhnlichen Situation"; um eine Folge der "katastrophalen Erfahrungen" der vergangenen Jahre. "Wir müssen diese schwierige Phase überwinden", meint Fricke, um nicht "als Folge der Finanzkrise in eine große Depression zu rutschen". Die Lage werde sich aber wieder normalisieren. "Und dann werden die Notenbanken die Zinsen wieder anheben, und es wird auch wieder höhere Zinsen für die Sparer geben."