Kolumne Euroschau Trügerische Ruhe an der Euro-Front
EZB-Präsident Draghi glaubt, bei der Eurokrise sei das Schlimmste überstanden. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa ist das eine unhaltbare These. Und selbst die Ruhe an den Märkten ist nur trügerisch.
Von Klaus-Rainer Jackisch, HR
Londons Guildhall ist ein wahres Schmuckstück. Der Prachtbau aus dem 12. Jahrhundert mitten in der City ist Amtssitz und Machtzentrum des einflussreichen Bürgermeisters der Themse-Metropole. Seine pompösen Empfänge und Gala-Dinner mit Eintrittspreisen von bis zu 11.500 Euro sind sehr beliebt - besonders, wenn der Präsident der Europäischen Zentralbank zu Gast ist. Mario Draghi geht gerne in die Höhle des Löwen, wenn er etwas Wichtiges mitteilen möchte.
In der Londoner City ist die Abneigung gegenüber dem Euro besonders stark. Hier erregt Draghi normalerweise großes Aufsehen. Im vergangenen August hatte er bewusst London gewählt. Damals kündigte er an, dass der Euro um jeden Preis gerettet werde.
Dieses Mal ging die Rechnung nicht auf. Die Presse nahm nur wenig Notiz von seiner Rede in der Guildhall. Dabei hatte sie es durchaus in sich. Die Finanzmärkte seien wieder davon überzeugt, "dass der Euro eine starke und stabile Währung" sei, ließ Draghi verlauten. "Wir können heute mit Fug und Recht sagen, dass die Wirtschafts- und Währungsunion stabiler ist, als sie es vor einem Jahr war." Die Gemeinschaftswährung werde gestärkt aus der Krise hervorgehen.
Jenseits der Realität
Bei vielen Beobachtern lösten die Bemerkungen nur Kopfschütteln aus. Denn die Beschreibung entspricht kaum der Realität. Mag sein, dass an den Finanzmärkten derzeit Ruhe herrscht und die Euro-Schuldenkrise nicht im Vordergrund steht. Grund dafür ist nicht, dass plötzlich alle Probleme gelöst sind und die Investoren wieder grenzenloses Vertrauen in die Währung haben. Grund ist allein, dass die Notenbank Milliarden über Milliarden an billigem Geld in die Märkte pumpt und damit künstlich Ruhe schafft.
Die Investoren nutzen dies, um an den Aktienmärkten das große Rad zu drehen. Das sieht nach außen schön aus, birgt aber die Gefahr einer neuen Blase. Die kann jederzeit platzen, wie selbst Deutsche Bank Co-Chef Jürgen Fitschen mahnte.
Viel gravierender ist, dass sich der Reformprozess in den Krisenländern nur dahin schleppt. Weil die Turbulenzen an den Finanzmärkten vordergründig aufgehört haben und die politische Opposition stärker wird, lassen viele Staaten mit ihren Bemühungen nach.
Noch immer im Ausnahmezustand
Von der Rückkehr zur Normalität ist der Euroraum jedenfalls weit entfernt. Griechenland hängt immer noch am Tropf der anderen Staaten. Zypern kommt nur mit Ach und Krach über die Runden. Portugals Regierung ächzt unter den Auflagen und sieht sich zunehmend innenpolitischem Druck ausgesetzt. Slowenien steht immer wieder kurz davor, unter den ESM-Rettungsschirm zu schlüpfen.
Spanien kämpft weiterhin mit maroden Banken, bei denen sich immer neue Probleme auftun. Italiens Wirtschaft liegt völlig am Boden. Frankreich bekommt sein Defizit nicht in den Griff. Die Regierung wirkt wie unter Volldampf, doch wirtschaftspolitisch kommt nichts Vernünftiges heraus. Frankreich ist der nächste Krisenkandidat.
Geradezu zynisch sind Draghis Aussagen, wenn man die sozialen Verhältnissen im Euroraum sieht: In Griechenland ist jeder Vierte ohne Job. In Spanien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 50 Prozent. In Italien kann sich wegen der schweren Rezession jeder Fünfte nicht mehr leisten, seine Wohnung zu heizen. 14 Prozent der Italiener leben unter der Armutsgrenze, doppelt so viele wie vor zwei Jahren. In Portugal leiden immer mehr Menschen an Hunger oder Unterernährung.
Überall im Euroraum werden die Sparer enteignet, weil sie kaum noch Zinsen für ihr Erspartes bekommen. Außerdem werden sie um ihre private Altersvorsorge gebracht. Banken und Versicherungen können großspurig versprochene, aber nicht garantierte Überschüsse nicht mehr erwirtschaften. Das ist der wahre Zustand im Euroraum.
Irritierender Polizeieinsatz
In Frankfurt am Main gingen am Wochenende wieder Tausende auf die Straßen. Der Protest wurde auf irritierende Weise von der Polizei unterdrückt. Die Blockupy-Bewegung ist auch Ausdruck der Kritik an der Krisenbewältigung. Wieder einmal müssen die Bürgerinnen und Bürger die Zeche für die Eurokrise zahlen.
Aber es sind nicht nur Bürger, die der Politik der EZB kritisch gegenüber stehen. Immer stärker wird der Widerstand auch aus der Wirtschaft, insbesondere dem Mittelstand. Der Verband der Familienunternehmer rügt schon seit langem die Anleihekäufe der EZB: Mit dieser Politik signalisiere die Notenbank, dass sie die Risiken notfalls an den Steuerzahler weitergebe. Einige Kritiker erhoffen sich nun Hilfe vom Bundesverfassungsgericht. Das wird sich nächste Woche mit den Klagen gegen den Kauf von Staatsanleihen befassen. Viele argumentieren, dies sei direkte Staatsfinanzierung. Die ist aber verboten.
Angesichts dieser Vorwürfe geht Mario Draghi lieber auf Tauchstation. Forderungen, er selbst solle vor Gericht aussagen, wies er zurück. Stattdessen wird sein "Außenminister", Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen, die EZB vertreten.
Viel zu befürchten haben die Währungshüter nicht. Das Bundesverfassungsgericht wird sich scheuen, der EZB gravierende Kompetenzverstöße vorzuwerfen. Denn das könnte das Ende des Euro bedeuten. Das werden die Richter in roter Robe nicht verantworten wollen.
Londons Bürgermeister kann unterdessen darauf setzen, dass Mario Draghi seine Stadt bald wieder einmal besuchen wird. Das schöne Bild von der angeblich so stabilen Währungsunion muss schließlich gepflegt werden.
Klaus-Rainer Jackisch schreibt bei tagesschau.de regelmäßig seine Kolumne Euroschau, in der er einen Blick auf die monatliche EZB-Ratssitzung wirft.