Missbrauch in der Katholischen Kirche Unter den Augen des Bistums
Ein Kaplan hat gestanden, im Sommer 2022 einen Messdiener sexuell missbraucht zu haben. Nach WDR-Recherchen wusste das Erzbistum Köln von weiteren Vorwürfen. Der Fall offenbart jahrelanges Vertuschen und Versagen - allen Versprechen zum Trotz.
Der Kölner Erzbischof schritt in gebückter Haltung auf die Bühne. Zögerlich nahm Rainer Maria Woelki am 18. März 2021 ein dickes, schwarz-gebundenes Buch entgegen. Es war keine Bibel, die er nun schwer in den Händen wiegte. Es war das Missbrauchsgutachten des Strafrechtlers Björn Gercke. Auf mehr als 900 Seiten hatte Gercke Fälle sexueller Gewalt vergangener Jahre im Erzbistum Köln analysiert.
Er habe, sagte Woelki, diesen Tag gefürchtet wie nichts anderes. Es habe Vertuschung gegeben, höchste Amtsträger hätten sich schuldig gemacht. "Das ist seit heute nicht mehr möglich und nicht mehr denkbar." Es war ein großes Versprechen, das Woelki abgab. Womöglich ein zu großes Versprechen.
Übergriff auf Messdiener
Im Januar 2024 betrat ein Geistlicher des Erzbistums Köln einen Gerichtssaal in Niederbayern. Alfons H. erschien vor dem Landgericht Deggendorf mit Sturmmaske und bunt verspiegelter Skibrille, seine Hände faltete er wie zum Gebet. Er musste sich wegen sexuellen Übergriffs an einem 15-jährigen Messdiener verantworten. Er gestand, wurde zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hielt das Urteil für zu milde und legte Revision ein.
Laut Urteil verging sich Alfons H. während zwei Urlaubsreisen fünf Mal an dem Jugendlichen. Im Sommer 2022 - 16 Monate nach Woelkis Versprechen. Und das, obwohl das Bistum in Sachen Alfons H. bereits seit 2010 vorgewarnt war.
Der WDR hat die Akte Alfons H. rekonstruiert, vertrauliche Dokumente gesichtet, mit Betroffenen, ehemaligen Kollegen und Verantwortlichen gesprochen. Die Recherchen legen ein System offen, das Alfons H. offenbar weiterziehen ließ - und die betroffenen Jugendlichen nicht schützte.
Erste Vorwürfe kurz nach der Priesterweihe
Alfons H. war 50 Jahre alt, als er sich entschloss, sich vollends in den Dienst der Kirche zu stellen. Der Ingenieur, der bis dato in einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet hatte, begann 2007 seine Priesterausbildung. Das Bistum entsandte ihn in die nordrheinwestfälische Kleinstadt Wipperfürth im Bergischen Land. Am 26. Juni 2010 wurde er feierlich im Kölner Dom zum Priester geweiht. Wenige Wochen später erreichten das Bistum bereits erste Hinweise auf Fehlverhalten.
Während einer Ferienfreizeit für Jugendliche soll er einen Teenager beim Umziehen und Duschen beobachtet haben. Der Teilnehmer, der anonym bleiben möchte, erinnert sich: "Als ich mir die Kleidung auszog, trat Alfons H. trotz geschlossener Tür ein und starrte mich für mehrere Sekunden von oben bis unten an. Als wir uns draußen wuschen, kam er ebenfalls raus und schaute uns dabei zu. Wir Jugendliche haben aufeinander Acht gegeben und dafür gesorgt, dass keiner mit ihm allein ist. Damals ist nichts Schlimmeres passiert."
Eltern aus Wipperfürth meldeten den Vorfall. Das Bistum vereinbarte mit Alfons H., dass er sich einer Einzelsupervision unterziehen solle. Im Dezember 2010 wurde bekanntgegeben, dass Alfons H. fortan nicht mehr in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sein würde.
Auflagen beirrten H. nicht
Im Sommer 2011 wurde H. regulär in den Kölner Norden versetzt. Die strenge Auflage schien ihn kaum zu beirren. Ein Zeitungsportrait aus dem November 2011 stellt Alfons H. unter der Überschrift "Lasset die Kinder zu mir kommen" vor. Bei seinen ersten Gottesdiensten in Worringen sei ihm aufgefallen, zitiert ihn ein Wochenblatt, dass sehr wenige Kinder die Messen besuchten. Dies mache ihn ein wenig traurig und er bitte: "Schickt mir doch eure Kinder in den Gottesdienst."
Ob der Zeitungsartikel dem Bistum damals bekannt war, wollte die Pressestelle nicht beantworten. Auch Alfons H. und sein Anwalt gingen darauf nicht ein.
Weiterer Vorfall auf Freizeit-Tour
Im Juni 2013 erreichte eine weitere Meldung das Bistum. Wieder ging es um Alfons H., wieder um einen Vorfall während einer Freizeit-Tour. Ein Ehepaar, das damals mitgefahren ist, teilt erstmals im Interview mit dem WDR-Politmagazin "Westpol" seine Erinnerungen.
Gemeinsam mit Alfons H. und mehreren Teenagern hätten sie sich auf eine dreitägige Radtour Richtung Trier gemacht. Als es jeweils zum Tagesziel ging, sei H. mit Jugendlichen vorgefahren, um sich ein gemeinsames Zimmer mit ihnen zu sichern. Einer der Teenager habe sich während der Fahrt verändert gezeigt. "Er war schon am Abend komisch, er war ziemlich ruhig. Auf dem Heimweg, hat er uns dann gebeten, mit dem Auto rechts ranzufahren. Unter Tränen hat er uns alles erzählt." Alfons H., so der Vorwurf, habe neben dem 19-Jährigen im Doppelbett masturbiert. Die Eltern des jungen Mannes meldeten den Vorfall ans Bistum. H. bestritt die Vorwürfe.
Weiter Kontakt zu Jugendlichen - trotz Versetzung
Sowohl der Anwalt von Alfons H. als auch das Erzbistum ließen Nachfragen zu diesem Vorwurf unbeantwortet - ebenso wie die Frage an das Bistum, warum es diesen Vorfall bislang nicht öffentlich gemacht hat. Erst neun Jahre später erstattete das Bistum bei der Staatsanwaltschaft Trier eine Anzeige in der Sache. Die Strafverfolger sahen jedoch keinen Anfangsverdacht für eine Straftat, womöglich auch, weil der Betroffene damals volljährig war.
Alfons H. wurde 2013 mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Der damalige Personalchef des Erzbistums Köln und heutige Weihbischof Ansgar Puff gab ein forensisches Gutachten in Auftrag. Am 24. April 2014 stimmte H. einer Therapie zu. Wenige Wochen später wurde Alfons H. zum Personalreferenten zitiert und traf über das Ergebnis des forensischen Gutachtens Vereinbarungen: Keine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie eine Therapie in Bezug auf den Umgang mit der eigenen Sexualität und eine Begleitung durch eine seelsorgliche Vertrauensperson.
Die Personalabteilung versetzte H. zum 14. August 2014 nach Haan nahe Wuppertal. Hier wurde er in der Seniorenarbeit eingesetzt. Ganz anders war es bei seiner darauffolgenden Station in Windeck in der Nähe von Bonn, wo er von 2018 bis 2023 arbeitete: Auf der Homepage der Gemeinde wurde der Pfarrer noch 2022 unter anderem mit den Schwerpunkten "Schulen, Firmung" vorgestellt. Während der Corona-Pandemie, so steht es im späteren Urteil, fiel Mitarbeitern des Pfarrgemeindehauses auf, dass in Zeiten des Lockdowns ein Jugendlicher bei Alfons H. ein- und ausging, teilweise bis in die Abendstunden. Die Interventionsstelle des Erzbistums wurde informiert.
Gutachten sah keine Gefahr
Etwa zur gleichen Zeit präsentierte Erzbischof Rainer Maria Woelki das Kölner Missbrauchsgutachten. Tatsächlich wird auch der Fall Alfons H. im Gercke-Gutachten erwähnt, im Aktenvorgang 174. Laut einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung, so heißt es im Missbrauchsgutachten, gehe vom Geistlichen keine Gefahr aus.
Doch nach Recherchen des WDR fehlte im Missbrauchsgutachten ein entscheidender Zusatz: H. wurde demnach von Psychiatern der Uniklinik Duisburg-Essen 2014 nur dann als ungefährlich eingeschätzt, wenn er nicht mit Kindern und Jugendlichen arbeite. Warum sich der Zusatz nicht in seinem Missbrauchsgutachten wiederfindet, konnte Strafrechtler Gercke auf Anfrage nicht erklären. Bei den im Gutachten dargestellten "Kurzsachverhalten" handele es sich um eine zusammenfassende Darstellung der zur Verfügung gestellten Akten des Erzbistums Köln. Ohne Zugriff auf die Akten sei er nicht mehr in der Lage, Fragen zu konkreten Einzelfällen zu beantworten. Auch das Bistum ließ die Frage unbeantwortet.
H. verging sich offenbar an weiterem Teenager
Kurze Zeit nach Vorstellung des Missbrauchsgutachtens, im Juni und Juli 2022, so gestand es Alfons H. später vor Gericht, verging er sich an jenem Teenager, der bei ihm zuvor im Pfarrhaus ein- und ausgegangen war. So heißt es im schriftlichen Urteil: "In der Nacht auf den 27.06.2022, als der Jugendliche, wie der Angeklagte wusste, schlief, schob der Angeklagte eine Hand unter die Bettdecke des Jugendlichen und griff ihm mit der Hand unter die Sporthose und die Unterhose im Genitalbereich. Er streichelte und drückte Penis und Hoden des Jugendlichen, um sich sexuell zu erregen." Dies habe sich mehrfach wiederholt. Der Jugendliche vertraute sich erst Monate später seinen Eltern und der Interventionsstelle des Erzbistums an, die dann die Staatsanwaltschaft informierte.
Der Anwalt von Alfons H., Christoph Grabitz, erklärte auf Anfrage, die Beziehung des Geistlichen mit dem Geschädigten sei "rein privater Natur" gewesen. Deshalb habe das Gericht ihn auch nicht wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt. Die Familie des Geschädigten habe den privaten Kontakt zu Alfons H. "bewusst in voller Kenntnis der Vorgeschichte" aufrecht erhalten.
Kirchenrechtliche Untersuchung geplant
Das Erzbistum sieht die Verantwortung dafür, dass es trotz der frühen Hinweise so weit kommen konnte, offenbar bei einem früheren Pfarrer aus Windeck. "Einer der ehemaligen leitenden Pfarrer des letzten Einsatzortes hatte die Bestimmungen nicht befolgt. Der mittlerweile im Ruhestand lebende Geistliche wurde hierfür von Kardinal Woelki sanktioniert und mit einer Geldstrafe belegt, die zugunsten der Auszahlung von Anerkennungsleistungen von Missbrauchsbetroffenen verwendet wird", schreibt die Pressestelle.
Sobald das strafrechtliche Verfahren gegen Alfons H. rechtskräftig abgeschlossen sei, werde das kirchenrechtliche Untersuchungsverfahren aufgenommen. Den Beschluss von 2010 habe man dahingehend erweitert, dass Alfons H. nun auch jeglicher Kontakt zu Kindern und Jugendlichen verboten sei. Offen bleibt die Frage, warum das Bistum diesen Schritt nicht schon viel früher gegangen ist.