Sexualisierte Gewalt in Kinderheim "Ein Mensch, der Kinder mit Freude terrorisiert hat"
Ein evangelischer Diakon wird Ende der 1960er-Jahre Leiter eines Kinderheims. Dort übte er mehrfach sexualisierte Gewalt aus. Ein Blick in die Akten wirft die Frage auf, warum er überhaupt eingestellt wurde.
Wenn Hermann Ammon an die 1960er-Jahre im unterfränkischen Willmars denkt, dann fällt ihm vor allem ein Wort ein: "Horrorkindheit". Zum ersten Mal erzählt er im BR öffentlich davon, was er hier im evangelischen Kinderheim Nicolhaus erlebt hat. Er erzählt von Schlägen und sexuellen Übergriffen durch den damaligen Heimleiter, einen evangelischen Diakon aus der Brüdergemeinschaft Stephansstift in Hannover.
"Es war ein Mensch, der Kinder mit Freude terrorisiert hat", erinnert Ammon sich. Das habe er zwei Jahre lang am eigenen Leib erlebt. Bis heute sind die Übergriffe in dem Heim nicht aufgearbeitet - obwohl die bayerische evangelische Landeskirche schon 2015 einen Betroffenen anerkannt hat.
Die bayerische Landeskirche verweist hier auf die unterschiedlich verteilten Zuständigkeiten. Das Nicolhaus liege in ihrem Bereich, der beschuldigte Diakon sei Mitglied einer Diakonengemeinschaft in Hannover gewesen, das Nicolhaus sei eine Einrichtung des örtlichen Diakonievereins. "Damit sind unsere Möglichkeiten leider sehr begrenzt."
Hermann Ammon spricht von einer "Horrorkindheit" im Nicolhaus.
Auffällig häufige Stellenwechsel
Auch die Diakonie in Bayern sieht nicht sich, sondern den Träger vor Ort in der Pflicht. Präsidentin Sabine Weingärtner sagt: "Das war auch nicht unser Auftrag, als Landesverband Recherchen zu diesem Fall anzustellen." Man habe dem örtlichen Verein, der von Ehrenamtlichen geführt wird, nahegelegt, den Fall aufzuarbeiten. Dort hat man Zeitzeugen befragt, die die Angaben der Betroffenen bestätigen.
Eine Nachfrage des Bayerischen Rundfunks bei der Dachstiftung Diakonie in Hannover bringt Details über den mutmaßlichen Täter ans Tageslicht. In einem Archiv in Gifhorn gibt es eine Akte über den Diakon.
Was auffällt: Der Mann hat oft seine Stellen gewechselt, war nur ein bis zwei Jahre in verschiedenen Funktionen tätig. Und er ist laut seiner Akte schon während seiner Ausbildung zum Diakon übergriffig geworden, etwa in einem Waisenhaus in Varel in Niedersachsen. Er habe sich Kindern dort in unschöner, intimer Weise zu nähern versucht, heißt es in einem Schreiben aus dem Jahr 1961, das im Archiv erhalten ist.
Das ganze Ausmaß bleibt unklar
Es sind nicht die einzigen Übergriffe, die in den Akten dokumentiert sind. Trotzdem darf der Diakon seine Ausbildung abschließen und arbeitet bis in die 1980er-Jahre immer wieder mit Kindern und Jugendlichen. Unter anderem ist er Internatserzieher in Herchen an der Sieg, nach seiner Zeit in Willmars leitet er ein Internat in Elsfleth im Oldenburger Land.
Weitere Arbeitsorte des Diakons sind Salzgitter, Hamm und Garmisch-Partenkirchen. In den 1990er-Jahren tritt er aus der Diakonengemeinschaft aus, danach verliert sich seine Spur.
Das ganze Ausmaß des Falls - ob es auch an anderen Einsatzorten Betroffene gibt und wie viele tatsächlich, ist bislang unklar. Es bleibt die Frage: Hätte man in Willmars 1969, als der Diakon als Heimleiter eingestellt wurde, von Übergriffen wissen können?
Keine Empfehlung, aber auch keine Warnung
Als sich der Diakon in Willmars bewirbt, erkundigt man sich bei zwei Stellen in Niedersachsen über den Bewerber. Beide stellen damals keine Empfehlungen aus, warnen aber auch nicht ausdrücklich vor ihm.
"Über die sexuellen Übergriffe hat man nicht gesprochen", sagt der bei der Dachstiftung Diakonie in Niedersachsen arbeitende Historiker Steffen Meyer. "Man hat aber formaljuristisch darauf hingewiesen, dass er eigentlich nicht die Kriterien erfüllt, eine Heimleiterstelle zu besetzen." Mit den Informationen, die er in den Akten gefunden habe, hätte man dem bayerischen Werk eigentlich empfehlen müssen, ihn nicht als Einrichtungsleiter zu nehmen, so Meyer.
Verantwortung ungeklärt
Der Fall des Diakons zeigt, was in der Ende Januar veröffentlichten evangelischen Missbrauchsstudie als "Verantwortungsdiffusion" beschrieben wird. Es gehe um die Frage, wer Verantwortung übernehme, sagt der Leiter der ForuM-Studie, der Hannoveraner Professor Martin Wazlawik.
Die unabhängige Missbrauchsbeauftragte des Bundes, Kerstin Claus, betont mit Blick auf die evangelische Kirche: "Natürlich ist es die Verantwortung und muss es die Verantwortung der Kirche und von den Verantwortungsträgern in Kirche und Diakonie sein, nachzuforschen, aufzudecken." Es gelte zu klären, ob Tatkomplexe wirklich beendet seien.
Mehr zu diesem Thema sehen Sie in der BR-Dokumentation "Missbrauch evangelisch: Wegsehen und verschweigen" in der ARD-Mediathek.