Studie zu sexualisierter Gewalt 1.259 Beschuldigte in der Evangelischen Kirche
Seit Jahrzehnten hat es auch in der Evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt gegeben. Eine Studie offenbart nun das Ausmaß: Demnach wurden mindestens 1.259 mutmaßliche Täter dokumentiert. Wohl nur die Spitze des Eisbergs.
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der Evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes unabhängiges Forscherteam stellte in Hannover seine Studie vor, in der von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs".
Hochrechnung ergibt noch höhere Zahlen
Es gebe Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht hätten strukturiert erfasst werden können, heißt es in der Mitteilung des Forscherteams. Untersucht wurden den Angaben zufolge flächendeckend nur Disziplinarakten. In einer Hochrechnung, die aus Sicht des Forscherteams mit "sehr großer Vorsicht" betrachtet werden muss, ergäbe sich eine Zahl von insgesamt 9.355 Betroffenen bei geschätzt 3.497 Beschuldigten.
Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.
Fehrs: "Wir haben uns schuldig gemacht."
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte bei der Vorstellung der Studie: "Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten."
Diese Bitte um Entschuldigung könne nur glaubwürdig sein, "wenn wir auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen. Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut", so Fehrs.
Kritik an schleppender Aufarbeitung
In der Vergangenheit war mehrfach Kritik an der schleppenden Aufarbeitung von Missbrauch bei den Protestanten laut geworden. So monierte der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen das Verhalten von EKD und Diakonie. Oftmals seien bei Taten von sexualisierter Gewalt gar keine Disziplinarakten angelegt worden. Es sei auch "völlig absurd, dass nicht die Personalakten untersucht werden, weil sich bei realistischer Betrachtung auch in Personalakten Anhaltspunkte für Fehlverhalten finden", sagt Rixen, der der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung angehört. Die Landeskirchen und die Diakonie müssten sich die Frage gefallen lassen, "ob sie den Missbrauch in der Evangelischen Kirche wirklich umfassend aufarbeiten wollen".
Betroffene fordern Mithilfe des Staates
Bei der Vorstellung der Studie mahnten Betroffene an, die Aufarbeitung von Fällen und Strukturen noch stärker voranzutreiben - auch mithilfe des Staates. "Wir brauchen hier eine Verantwortungsübernahme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffene kein Gegenüber", sagte Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes. Es brauche externe Fachleute und Beschwerdestellen. Aufarbeitung sei die Königsdisziplin, betonte Kracht. Aus ihrer Sicht fehle in den Landeskirchen aber Kompetenz und vermutlich auch Interesse, Fälle tatsächlich aufzudecken.
"Wenn solche Nachforschungen nicht unternommen werden, bleiben Täter unentdeckt." Die Studie komme zwar spät, sie sei aber wichtig für die Betroffenen, da diese in die Untersuchung einbezogen worden seien, sagte Kracht. Sie bemängelte, dass die Evangelische Kirche längst hätte handeln können. Die Studie könne daher nur ein Anfang sein.
Kaum Vergleichbarkeit mit Studie der Katholischen Kirche
Die EKD hatte die Studie 2020 initiiert. Die Fallzahlen sind nicht direkt vergleichbar mit den Ergebnissen einer Studie zu sexualisierter Gewalt in der Katholischen Kirche, die 2018 veröffentlicht wurde. Nach der Auswertung von fast 40.000 Personalakten aus der Zeit zwischen 1945 und 2014 wurden 1.670 katholische Priester und Diakone beschuldigt, denen 3.677 Kinder und Jugendliche als Betroffene zugeordnet werden konnten. Damals betonten die Wissenschaftler, dass die Zahl "eine untere Schätzgröße" sei.
Es könnten "keinerlei Vergleiche" mit der katholischen Kirche oder anderen Institutionen gezogen werden, führte der Koordinator der Studie, Martin Wazlawik, aus. Die Zahlen legten in keiner Weise eine geringere Zahl an Beschuldigten in der Evangelischen Kirche und Diakonie nahe.
Buschmann: Aufarbeitung kein Ersatz für Strafverfolgung
Bundesfamilienministerin Lisa Paus forderte von der Evangelischen Kirche eine systematische institutionelle Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Die Ergebnisse der Studie seien erschreckend, erklärte die Grünen-Politikerin. Das Vertrauen der Betroffenen in die Institution der Evangelischen Kirche sei durch einzelne Täter in abscheulicher Weise ausgenutzt worden.
Bundesjustizminister Marco Buschmann rief beide Kirchen auf, sich für Aufklärung von Missbrauchsfällen, Wiedergutmachung und bessere Prävention einzusetzen. "Kirchliche Aufarbeitung ist wichtig - aber sie ist kein Ersatz für staatliche Strafverfolgung, wo diese möglich ist", erklärte der FDP-Politiker.
Castellucci: Aufklärung auch in anderen Bereichen nötig
Der SPD-Politiker Lars Castellucci begrüßte die Studie und forderte Aufklärung auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die meisten Taten geschähen "im persönlichen Nahfeld, aber auch in anderen Institutionen des Sports, des Ehrenamts, in Bildungseinrichtungen und Heimen". Die Politik müsse sicherzustellen, dass sexualisierte Gewalt "überall benannt und bekämpft wird", sagte der Kirchenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion.
Missbrauchsbeauftragte sieht auch den Staat in der Pflicht
Im Interview mit den tagesthemen erklärte die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, wie mühsam Betroffene in den verschiedenen Landeskirchen und den Strukturen der Diakonie um Anerkennung und um Aufarbeitung kämpfen mussten: "Heute ist kein Tag, wo Entschuldigungen groß Platz haben sollten, sondern wo es darum geht, anzuerkennen, dass noch viel getan werden muss."
Claus forderte unter anderem, dass auch der Staat Verantwortung übernehmen müsse. "Wenn ich mir anschaue, dass in der katholischen Kirche Aufarbeitung nur schwerlich funktioniert und dass es jetzt in der Evangelischen Kirche dieses Zeugnis gibt, dass auch im Sport und anderen Institutionen Aufarbeitung ausbleibt - dann braucht es auch eine Staatliche Verantwortungsübernahme."
Dies beinhalte unter anderem die Stärkung der Strukturen der Aufarbeitungskommission und ihres Amtes. Zudem forderte Claus einheitliche Entschädigungsregelungen: Es dürfe nicht sein, dass es vom Zufall abhänge, wie hoch die Zahlungen an Betroffene in der jeweiligen Landeskirche seien.