Auswirkungen der Corona-Maßnahmen Das lange Leiden von Kindern und Jugendlichen
Tausende junge Menschen leiden bis heute an den Nachwirkungen der Corona-Pandemie. Vor allem die Schulschließungen haben ihnen zugesetzt. Die Folge: ein massiver Anstieg psychischer Erkrankungen. Von J. Arendt, L. Polanz und A. Pollmeier.
Es war der zweite Corona-Lockdown, der sie aus der Bahn warf. So sehr, dass sie beinahe gestorben wäre. Philina (Name von der Redaktion geändert) leidet seit dreieinhalb Jahren an Magersucht, seit die Corona-Pandemie ihr Leben veränderte. Zum dritten Mal ist sie deshalb schon in einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche. Getrennt von Freunden und ihrer Familie.
An die Schulschließungen erinnert sich Philina noch ganz genau. Das erste Mal habe sie es noch gut verkraftet, erzählt sie. Als die Schulen Weihnachten 2020 aber erneut in den Lockdown gehen, verschlechtert sich ihre Stimmung dramatisch. "Am schlimmsten war, dass ich meine Freunde so wenig sehen konnte, man einfach auf das Handy angewiesen war, um irgendwie noch Kontakt zu halten." Sie zieht sich zurück, verliert sich in den sozialen Medien, in immer intensiveren Sport-Workouts und unrealistischen Schönheitsidealen. Irgendwann ist sie so lebensgefährlich abgemagert, dass sie ins Krankenhaus muss.
Angststörungen, Depressionen, Essstörungen
Die Schule als Lebensort: plötzlich weg. Das belastete nicht nur Philina, sondern Tausende andere junge Menschen. So schwer, dass viele bis heute Hilfe brauchen. Wie hoch die Zahl der Hilfsbedürftigen ist, kann niemand genau sagen. Aber schon ein Jahr nach Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Behandlungen bei Kinder- und Jugendpsychotherapeuten um 60 Prozent. Krankenkassendaten der DAK zeigen, dass vor allem Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren betroffen sind. Bei ihnen stieg die Zahl neu diagnostizierter Essstörungen während der Pandemie um 51 Prozent. Auch Angststörungen und Depressionen nahmen deutlich zu.
Zahlen, die eindeutig auch auf die Schulschließungen zurückzuführen seien, sagt Julian Schmitz, Professor für Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig. Er hat zahlreiche nationale und internationale Studien ausgewertet und sieht einen klaren Zusammenhang: "Je länger Schulschließungen gedauert haben, desto stärker war auch die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt."
Viele Probleme zeigen sich erst zeitversetzt
Mit fatalen Folgen, denn die Nachfrage nach Hilfe ist auch heute noch ungebrochen hoch. Der Grund: Viele Probleme zeigen sich erst zeitversetzt. Durch die Schulschließungen haben Kinder wichtige Entwicklungsschritte, etwa beim Spracherwerb, verpasst. Auch Erfahrungen im Sozialverhalten ließen sich nicht einfach nachholen.
Viele Kinder und Jugendliche seien in ihrer Entwicklung zurückgeworfen, erklärt Thomas Fischbach, ehemaliger Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Auch wenn dies nicht die einzige Ursache für den Anstieg psychischer Erkrankungen bei Kinder und Jugendlichen sei, gebe es hier doch einen kausalen Zusammenhang. Laut der neu veröffentlichten Trendstudie Jugend in Deutschland ist jeder zehnte Jugendliche aktuell wegen psychischer Störungen in Behandlung.
Waren Schulschließungen notwendig?
Die Wirkung von Schulschließungen war schon früh umstritten. Im August 2020 warnte etwa das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten davor, Kinder und Jugendliche als Pandemietreiber zu betrachten. Doch Schulschließungen wurden für Bund und Länder zu einem Mittel der Wahl, um die Zahl der Corona-Infektionen zu reduzieren. Den Preis für "das möglichst normale Leben der Erwachsenen", habe vor allem die junge Generation zahlen müssen, sagt Jugendpsychologe Schmitz rückblickend.
Dabei hätte es andere Möglichkeiten gegeben. In der Schweiz galt eine Homeoffice-Pflicht für Erwachsene, damit Kinder und Jugendliche zur Schule gehen konnten. Auch andere Länder verzichteten nahezu komplett auf Schulschließungen.
Schwedischer Epidemiologe: "Das war es uns nicht wert”
Insbesondere Schweden setzte in der Pandemiebekämpfung auf Eigenverantwortung statt Lockdown - vor allem in den Schulen. Nur die älteren Jahrgänge wurden ins Homeschooling geschickt. Für die Jüngeren blieben die Schulen während der Pandemie geöffnet.
Im Vergleich zu Deutschland starben in Schweden - gemessen an der Einwohnerzahl zu Beginn der Pandemie - zwar deutlich mehr Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion. Während der zweiten und dritten Infektionswelle aber glichen sich die Zahlen in Schweden im Vergleich an, obwohl die Schulen offen blieben.
Geprägt hat den schwedischen Weg der Epidemiologe Anders Tegnell. Im Monitor-Interview betont er, man habe gewusst, dass Schulschließungen nur einen kleinen Einfluss auf die Ausweitung der Krankheit hatten, aber einen großen Einschnitt für Kinder bedeuten würden: "Das war es uns nicht wert." Auch in Schweden sehe man, dass die Pandemie Kinder und Jugendliche psychisch belastet habe. So deutliche Auswirkungen wie hierzulande blieben aber aus.
Kinder und Jugendliche profitieren kaum von Maßnahmen
In Deutschland hat eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung 2023 die Folgen der Schulschließungen untersucht und Handlungsempfehlungen beschlossen. Der Kinderarzt Thomas Fischbach war Mitglied der Arbeitsgruppe. Die Empfehlungen seien gut, die Umsetzung lasse aber zu wünschen übrig, sagt er heute.
Ein Beispiel: der öffentliche Gesundheitsdienst. Den wollte der Bund mit vier Milliarden Euro stärken, das Geld floss vor allem für mehr Personal und eine bessere Bezahlung. Aber nur etwa 70 der bundesweit 377 Gesundheitsämter hielten in Deutschland kinder- und jugendpsychiatrische Angebote vor, kritisiert Matthias Albers, Sprecher des Fachausschusses Psychiatrie beim Bundesverband Öffentlicher Gesundheitsdienst.
Warten auf bessere Zeiten
Ein weiteres Problem ist der Mangel an Therapieplätzen. Untersuchungen an der Uni Leipzig zeigen: Wartezeiten bei ambulanten Therapeuten haben sich in der Pandemie verdoppelt und sind bis heute nicht wesentlich zurückgegangen. Dabei wollte die Regierung schon vor zwei Jahren mehr Therapieplätze schaffen. So stand es in ihrem Koalitionsvertrag. Geändert habe sich seitdem zu wenig, kritisieren Experten.
Das Kölner Gesundheitsamt etwa berichtet, dass Betroffene und ihre Familien oft allein sechs Monate auf eine Diagnose warten müssten. Je länger die Wartezeit, desto höher ist aber die Gefahr, dass sich die Krankheitsbilder chronifizieren und nur noch mit hohem Aufwand zu korrigieren sind. Bis zu einer Therapie verlängere sich die Wartezeit noch mal auf bis zu ein Jahr. Die Suche nach klinischen Behandlungsplätzen etwa sei so aufwändig, dass viele Familien aufgäben. Das träfe vor allem sozial benachteiligte Familien und Einwanderer.
Aktuell arbeitet das Bundesgesundheitsministerium an einem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in den Kommunen. Das soll den Bedarf vor Ort gezielt an der Patientengruppe der Kinder und Jugendlichen ausrichten und für eine gerechtere Verteilung psychotherapeutischer Angebote auch in ländlichen Regionen sorgen. Wann das Gesetz kommt und wie viele zusätzliche Therapieplätze entstehen, ist bis heute allerdings unklar. Eine schnelle Umsetzung wäre laut Fachleuten dringend geboten, um die langen Wartezeiten endlich zu verkürzen und so die Gefahr psychischer Langzeitschäden zu verringern.