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Megacity-Projekt "Neom" "Auf saudischem Blut aufgebaut"

Stand: 15.11.2023 11:08 Uhr

Saudi-Arabien will größter Hersteller von grünem Wasserstoff werden - im Zentrum der Pläne: das Megacity-Projekt "Neom". Dafür werden Menschen vertrieben und inhaftiert. Von dem Vorgehen profitieren laut FAKT-Recherchen auch deutsche Unternehmen.

Von Isolde Lichter und Sami Haddad

Damit Saudi-Arabien sein Megacity-Projekt "Neom" umsetzen kann, geht es hart gegen Bewohner von anliegenden Dörfern vor. 28.000 Menschen sollen zum Umzug gezwungen werden, etwa 6.000 sind bereits umgesiedelt, einige wurden dafür bezahlt. Doch ein Mann wurde auch erschossen, als er sich weigerte, sein Haus zu verlassen. Das räumten die Behörden ein, sprachen von einem Gefecht. Von diesem harten Vorgehen des saudischen Staates profitieren - zumindest indirekt - auch deutsche Unternehmen.

"Neom" sollen zwei schnurgerade Mauern aus Hochhäusern auf einer Gesamtlänge von 170 Kilometern bilden und einmal neun Millionen Menschen beherbergen - die komplett mit Erneuerbaren Energien versorgt werden sollen. Ein Teil von "Neom" ist das weltgrößte Projekt für grünen Wasserstoff mit dem Namen Helios, gebaut von einer US-Firma.

Grafische Darstellung von "The Line"

Grafische Darstellung der "The Line" genannten Stadt des "Neom"-Projekts.

Das Herzstück für Helios liefert eine deutsche Firma: Nucera, eine Tochter von ThyssenKrupp. Das Dortmunder Unternehmen ist Spezialist für Wasser-Elektrolyse. Der grüne Wasserstoff verspricht lukrative Geschäfte. Mit dem Auftrag für "Neom" vervielfachte Nucera seinen Umsatz und erzielte beim Börsengang im Juli dieses Jahres direkt 500 Millionen Euro. Wohl auch dank der guten Geschäfte in Saudi-Arabien stieg die Firma im September in den S-DAX auf.

Ab 2026 soll die Helios-Anlage täglich bis zu 600 Tonnen des begehrten Gases produzieren. Den grünen Strom liefern Windparks, die rings um den Küstenort Maqna am Golf von Akaba entstehen. Was das für die Einwohner bedeutet, dokumentiert auch ein Sonderbericht der Vereinten Nation (UN) von Ende April 2023. In diesem werden erhaltene Informationen aufgelistet: "Im Juli 2022 wurden die Bewohner von Maqna, einem Küstendorf, das von Angehörigen der Stämme Howaitat, Bani Attia und Juhayna bewohnt wird, deportiert - in die Städte Haql und Tabuk." Diese Städte sind bis zu 200 Kilometer von der ursprünglichen Heimat der Beduinenstämme entfernt.

Das brutale Vorgehen gegen die Bevölkerung

In Brüssel setzt sich eine Frau für die Menschenrechte in ihrer Heimat Saudi-Arabien ein - obwohl ihre Familie dort verfolgt wird. Lina Al-Hathloul von der Menschenrechtsorganisation ALQST ist Rechtsanwältin und dokumentiert die Vertreibung der Howeitat. Dieser alte Beduinenstamm siedelt schon seit Jahrhunderten im Nordwesten des Landes. Jetzt sind deren Dörfer offenbar den Bauarbeiten für "Neom" im Weg.

Al-Hathloul besitzt Kopien von Gerichtsurteilen aus Saudi-Arabien: Danach genügten weitergeleitete Twitter-Nachrichten oder Handyvideos für lange Haftstrafen. So heißt es in einer Urteilsbegründung: "Er folgte dem Account von Personen, die versuchen, die Sicherheit des Landes zu verletzen und teilte deren Beiträge." Das Urteil dafür lautete: 21 Jahre Gefängnis.

Lina Al-Hathloul

Menschenrechtsaktivistin Al-Hathloul hat Verhaftungen und Folter in saudischen Gefängnissen dokumentiert.

In einem anderen Urteil, welches FAKT vorliegt, heißt es: "Er war im Besitz von Videos und Veröffentlichungen auf sozialen Netzwerken mit dem Ziel, terroristische Ideologien zu fördern und eine verstorbene Person zu preisen." Dafür hat es 50 Jahre Haft gegeben.

"Wir haben mindestens 50 Verhaftungen dokumentiert, darunter fünf Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, weil sie sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen", sagt Menschenrechtsaktivistin Al-Hathloul. Bei einem Mann hat ALQST auch die brutale Folter im Gefängnis dokumentiert. "Ihm wurden die Füße über Stunden ausgepeitscht. Er wurde den ganzen Tag lang in der Sonne fixiert, ohne die Möglichkeit, sich zu bewegen, zu trinken oder zu essen. Er wurde mit Stromschlägen und Auspeitschen gefügig gemacht, um ihn zu falschen Geständnissen unter dem Vorwurf des Terrorismus zu bewegen."

UN fordern Firmen und Regierungen zum Handeln auf

Im UN-Bericht heißt es zu den erhaltenen Informationen weiter: "Ein großer Teil des Stammes der Howeitat weigerte sich, das Land zu verlassen, und war infolgedessen verschiedenen Formen der Verfolgung ausgesetzt: Zerstörung von Eigentum, die Unterbrechung der Stromzufuhr, unerklärliche Brände, Schikanen, Drohungen und Entführungen." Die Vereinten Nationen zeigten sich alarmiert über die drohenden Hinrichtungen und forderten Firmen und Regierungen auf, zu intervenieren.

Dessen ungeachtet forciert die Bundesregierung die Wasserstoff-Kooperation mit dem Königreich Saudi-Arabien. Das grüne Gas vom Golf soll helfen, die deutsche Wirtschaft zu dekarbonisieren. Im Mai sicherte der Bund mit einer Hermes-Bürgschaft das Geschäft mit der Helios-Anlage in "Neom" ab.

"Beobachten Entwicklungen mit großer Sorge"

Vor der Kamera wollten weder Bundeskanzler Olaf Scholz noch das Wirtschaftsministerium unter Leitung von Robert Habeck Stellung nehmen. Das Auswärtige Amt von Annalena Baerbock teilte FAKT schriftlich mit: "Die Berichte zu Entwicklungen rund um das 'Neom'-Projekt in Saudi-Arabien beobachten wir mit großer Sorge. Dies thematisieren wir auch regelmäßig in unseren Gesprächen mit Saudi-Arabien und ThyssenKrupp."

"Wir müssen den Dialog mit schwierigen Partnern, egal wo auf der Welt suchen, wenn wir das gemeinsame Ziel verfolgen, tatsächlich das Klima zu schützen", sagt Lamya Kaddor, die für die Grünen im Bundestag als Berichterstatterin für den Nahen und Mittleren Osten sitzt.

"Wenn wir uns davon verabschieden würden, diese Diplomatie zu führen, dann würden wir irgendwann nur noch mit ein paar wenigen demokratischen Staaten auf dieser Welt sprechen. Und das wäre, ehrlich gesagt, auch nicht zu unserem Nutzen." Saudi-Arabien und anderen Staaten sei aber klar, dass die Menschenrechte nicht verhandelbar seien.

Entwicklungsleiter von Projekt stieg aus

Nicht nur auf politischer Ebene wird die Mitwirkung Deutschlands am Projekt in Saudi-Arabien kritisch gesehen. Ulrich Heindl war Entwicklungsleiter für das Helios-Projekt. Der Wasserstoff-Experte stieg nach anderthalb Jahren aus und wechselte zu einem Projekt in Namibia: "Während ich für 'Neom' gearbeitet habe, hat sich bei mir die Meinung verfestigt, dass wir uns eben für diese zukünftige, grüne Energie nicht auf einzelne Länder wie Saudi-Arabien verlassen sollten, die eben auch politisch und gesellschaftlich ein bisschen zweifelhaft sind."

Ulrich Heindl

Ulrich Heindl war Entwicklungsleiter für das Helios-Projekt.

FAKT hat die ThyssenKrupp-Tochter Nucera um eine Stellungnahme gebeten. Die Firma erklärt schriftlich: "Die Achtung der Menschenrechte ist und bleibt ein zentraler Wert bei ThyssenKrupp-Nucera. Wir bekennen uns zur Internationalen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen und ihrer konzernweiten Umsetzung."

Die Menschenrechtsaktivistin Al-Hathloui sieht deutsche Investoren in einer großen moralischen Verantwortung: "Die saudische Regierung wird ausländischen Investoren nichts tun." Deshalb sollten alle an 'Neom' beteiligten Unternehmen ihre Stimme erheben, fordert sie: "Sagen Sie nicht, sie wüssten nicht, was vor Ort geschieht. Sie nehmen also an einem Projekt teil, dass auf saudischem Blut aufgebaut ist."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 16. Mai 2023 um 14:53 Uhr.