Menschenhandel Betrogen, ausgebeutet, misshandelt
Auf der Suche nach Arbeit wenden sich Tausende Kenianer an Agenturen, die ihnen Jobs im Ausland versprechen. Dort erleben sie oft Gewalt, Missbrauch und moderne Sklaverei. Hilfsorganisationen schildern beklemmende Schicksale.
Mercy N. liebt ihren drei Jahre alten Sohn Jason sehr. Dabei war ihr gemeinsamer Start ein Albtraum, von dem sie mit Schrecken erzählt. Vor sechs Jahren entscheidet sich die Kenianerin, ins Ausland zu gehen. Dort würde sie gutes Geld verdienen, verspricht ihr eine Vermittlungsagentur. Mercy ist damals 23 Jahre alt. In Kenia findet sie keine Arbeit, sieht keine Perspektive. So geht es vielen jungen Menschen im Land: Laut Weltbank sind mehr als 13 Prozent der 15- bis 24-Jährigen in dem ostafrikanischen Land arbeitslos.
Mercy soll in Katar als Putzfrau im Flughafen arbeiten. Doch als sie landet, kommt alles anders. Ihr Pass wird ihr abgenommen, sie ist rechtlich komplett abhängig von ihrem künftigen Arbeitgeber. Das hat System: Tausenden Menschen, die zum Arbeiten in arabische Länder kommen, werden ihre Papiere abgenommen. So sieht es unter anderem in den Golfstaaten das Gesetz vor.
Von Katar bringt ihr Arbeitgeber sie laut Mercys Schilderungen in den Libanon. Sie arbeitet dort als Hausangestellte für eine sechsköpfige Familie: "Ich musste um vier Uhr morgens aufstehen und durfte um ein oder zwei Uhr morgens schlafen gehen. Meine Arbeit musste ich im Stehen erledigen, durfte nicht sitzen." Essen habe es kaum gegeben, einmal pro Tag trockenes Brot und etwas Tee, erzählt sie. Nach einigen Monaten habe die Familie angefangen, sie zu prügeln - sogar die Kinder schlagen Mercy.
Hunderte Kenianer im Ausland gestorben
Solche Misshandlungen seien keine Seltenheit, sagt Winnie Mutevu. Sie arbeitet für die kenianische Hilfsorganisation HAART, die sich gegen Menschenhandel einsetzt und Opfer unterstützt. Schwarze Menschen würden unter Zwangsarbeit besonders leiden - aufgrund rassistischer Denkweisen: "Schwarze werden nie müde, bluten nie. Sie sind stark und müssen sich nie anstrengen."
Vor wenigen Tagen hat die kenianische Regierung neue Zahlen genannt, die unterstreichen: Mercy ist kein Einzelfall. Demnach arbeiten alleine in Saudi-Arabien mehr als 200.000 Kenianer, der Großteil als Hausangestellte. 283 kenianische Arbeiter seien von Januar 2020 bis November 2022 in Saudi-Arabien, Katar und in den Vereinigten Arabischen Emiraten gestorben. Für weitere arabische Länder nennt die Regierung keine Zahlen.
Daten der Vereinten Nationen zeigen: Gemessen an der Bevölkerungsgröße haben arabische Länder international die höchste Quote an moderner Sklaverei. Vor allem Frauen werden als Hausangestellte in Zwangsarbeit ausgebeutet, aber auch sexuell missbraucht. Winnie Mutevu meint: Die Dunkelziffer sei um ein Vielfaches höher. "Viele werden in den Häusern ihrer Arbeitgeber getötet, stecken in Kühltruhen. Wir werden nie erfahren, was wirklich mit ihnen passiert ist."
Angehörige bei einer Trauerfeier für Judith Adhiambo: Die Frau arbeitete in einer Familie in Saudi-Arabien als Haushaltskraft - und kam in einem Sarg zurück. Laut Hilfsorganisationen ist sie eine von vielen.
Mangelnde Gesundheitsversorgung
Grace, die ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will, ist derzeit in Saudi-Arabien. Die 22-Jährige erzählt, sie habe Glück: Ihre Arbeitgeber, ein Ehepaar, erlauben ihr, ihr Handy zu nutzen, "aber andere gehen durch die Hölle." Eine Freundin sei krank, ihr Chef wolle sie nicht ins Krankenhaus bringen: "Ihre linke Seite ist taub und trotzdem muss sie jeden Tag 17 Zimmer reinigen", so Grace. Die Vermittlungsagentur, die sie nach Saudi-Arabien gebracht hat, sei keine Hilfe - ihre Anrufe kämen nicht durch. Es gebe kaum seriöse Anbieter, bestätigt die Hilfsorganisation HAART Kenya. Und auch unter mangelnder Gesundheitsversorgung litten viele.
Nicht nur in arabischen Ländern ist Menschenhandel ein Problem: Petkay K. hat einen Uni-Abschluss und soll für einen IT-Job nach Thailand reisen. Seine Vermittler versprachen ihm ein eigenes Zimmer, mit Pool und Basketballplatz. Er landet in Laos, in einem Raum zusammengepfercht mit Dutzenden anderen Arbeitern - Menschen aus Kenia, Uganda, China und Malaysia. Immer unter der Überwachung chinesischer Firmenbosse. Immer in der Angst, Opfer von Organhandel zu werden: Einige Arbeiter hätten plötzlich Augenklappen gehabt, erinnert er sich. "Viele Chinesen haben Narben. Sie sagten mir, man hätte ihnen die Nieren entnommen."
Petkay hört von Fällen, bei denen Kenianer gestorben seien. Auch die Hilfsorganisation HAART bestätigt das. Petkay vermutet: Er und seine kenianischen Kollegen seien verschont geblieben, weil sie die einzigen waren, die auf Englisch mit den Kunden kommunizieren konnten.
Der angebliche IT-Job entpuppt sich als ganz andere Arbeit: Mit Fotos junger Frauen aus dem Internet täuschen sie Männern in westlichen Ländern Liebesbeziehungen vor und bringen diese dazu, in Kryptowährung zu investieren. Petkay hält das für legal - bis er merkt, dass das überwiesene Geld nicht wirklich angelegt wird. "Als wir anfingen, Fragen zu stellen, fingen sie an, einzelne von uns zu misshandeln. Einige wurden mit Stromschlägen gefoltert, andere blutig geschlagen", erinnert er sich. Mithilfe der kenianischen Botschaft, gelingt ihm die Flucht zurück nach Kenia.
Petkay K. sagt, seiner Familie habe er nicht davon erzählt, wie es ihm in Laos ergangen sei: Er schäme sich zu sehr.
Eine Überlebende klärt in Schulen auf
Mercys Flucht verläuft auf Umwegen. Eine andere Kenianerin habe sie zunächst bei sich aufgenommen. Als sie diese im Taxi zur Arbeit begleitet habe und beide mitten auf der Straße ausgestiegen seien, habe sie verstanden: Es geht um Prostitution. Mercy sagt, sie habe sich geschworen: "Ich werde so einen Job nicht machen" - und sei dennoch zu einem Mann ins Auto gestiegen. Als sie aussteigen, gibt sie vor, Kondome kaufen zu müssen - und flieht.
Dann, sagt Mercy, habe sie zwei Wochen unter einer Brücke gelebt, bis ein Mann ihr Arbeit versprochen habe. Er vermittelt ihr tatsächlich einen Job als Putzfrau, bringt sie täglich zur Arbeit. Sie lebt bei ihm. Nach vier Monaten stellt er ihr ein Ultimatum: Entweder zurück unter die Brücke - oder seine Frau werden. "Ich wollte das nicht tun, aber ich hatte keine Wahl: Prostitution oder bei diesem Mann bleiben."
Zwei Monate später ist Mercy schwanger. Sie erzählt, dass sie versucht habe, das Baby abzutreiben, indem sie eine Überdosis Medikamente genommen habe - doch beide überleben. Nach Jasons Geburt habe sie ihrem Sohn abermals eine Überdosis gegeben. Auch diese überlebt er. Mercy erfährt von Protesten anderer Kenianerinnen vor dem Konsulat und schließt sich an. Sie will nach Hause. Das Konsulat vermittelt ihr einen Anwalt, der mit den Vereinten Nationen zusammenarbeitet.
Als Jasons Vater das erfahren habe, habe er den Jungen entführt, berichtet Mercy. Ihr Anwalt und die Polizei hätten wochenlang nach dem Kind gesucht. Am 6. September 2020 soll Mercy nach Kenia zurückkehren - aber will nicht ohne ihren Sohn ins Flugzeug steigen. Die Polizisten hätten Jason schließlich ausfindig gemacht und nur in eine Decke gehüllt zu ihr gebracht. Mercy sagt, sie habe keine Fragen gestellt: "Ich habe ihn einfach mitgenommen und bin zurück nach Kenia."
Dort bekommt sie über eine Freundin Kontakt zur Hilfsorganisation HAART, wird betreut und engagiert sich heute selbst: Mercy geht in Kirchengemeinden, spricht vor Schulklassen und erklärt, wie man unseriöse von seriösen Vermittlern unterscheiden kann - damit nicht noch mehr Menschen in die Fänge von Menschenhändlern geraten.