Rassistische Polizeigewalt Eine Frage der Menschenwürde
In deutschen Behörden herrscht eine Wagenburgmentalität, wenn es um Rassismus-Vorwürfe geht, beklagt der Forscher Poutrus. Demütigend sei es, wenn Rassismus-Erfahrungen infrage gestellt werden.
tagesschau.de: Wie sehen Sie angesichts der Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in den USA die Lage hier?
Poutrus: Es gibt auch in Deutschland Todesopfer von Polizeigewalt und seit Jahren anhängige Verfahren, wo Leute angeblich sich selbst in einer Gefängniszelle angezündet haben, obwohl sie fixiert waren, was eine vorsichtige Umschreibung dafür ist, dass Hände auf dem Rücken und Füße gefesselt waren.
Die Quantität in den USA ist, gemessen an der Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik, erheblich umfangreicher. Gewalt spielt dort im Alltag eine viel größere Rolle als bei uns. Das bedeutet aber eben nicht, dass es das Problem hier nicht gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder Polizeibeamte in Deutschland auch auf Seiten des Opfers stehen würde oder doch eher auf Seiten der Polizeibeamten, die in Minneapolis so brutal vorgegangen sind.
Einzeltaten stellen Autorität der Polizei infrage
tagesschau.de: Wie sehen Sie Ausmaß und die Qualität in Deutschland?
Poutrus: Das Problem ist, dass jeder Fall von Machtmissbrauch, um den es sich ja dabei handelt, die Autorität der Polizei insgesamt infrage stellt, auch wenn die Polizei oder die Untersuchungsbehörden immer wieder betonen, dass es sich um das Fehlverhalten einzelner Beamter handelt. Aber diese Einzelfälle haben eine exemplarische Bedeutung und die kann man nicht wegreden.
Das geschieht in Deutschland viel zu oft. Aber wieso können sich die betreffenden Beamten sicher sein, dass sie kein Unrecht begangen haben? Solche Fragen führen in das Selbstverständnis von Polizeiorganisationen bis hin zu der Frage das Rechtsstaatsverständnisses in dieser Institution.
tagesschau.de: Machen Sie das auch der Politik zum Vorwurf?
Poutrus: Unbedingt. Wir haben gerade in Berlin eine Debatte um ein neues Antidiskriminierungsgesetz. Da behaupten Gegner dieses Gesetzes, dass alle Polizeibeamtinnen und -beamte kollektiv unter Verdacht gestellt würden. Das halte ich für eine ungeheuerliche und maßlose Kritik. Es geht darum, dass der Vorwurf von Polizeiwillkür grundsätzlich untersucht werden muss. Das kann anstrengend sein. Aber bei dieser Untersuchung gilt die Unschuldsvermutung für jeden einzelnen Polizisten, allerdings nicht grundsätzlich gegenüber einer ganzen Institution.
Wagenburgmentalität in den Institutionen
tagesschau.de: Wie ist es mit anderen Institutionen in Deutschland?
Poutrus: Das große Problem in der Innen- und Justizverwaltung ist, dass Rassismus mit solchen Vorfällen wie in Minneapolis gleichgesetzt wird. Rassismus ist aber eine Vorstellung, die solche Taten ermöglicht - die Vorstellung, dass Handeln gegenüber einer bestimmten Gruppe legitim ist, der bestimmte Eigenschaften im Kollektiv zugewiesen werden.
Dazu kommt bei Institutionen wie der Polizei, aber auch der Justiz eine Wagenburgmentalität. Es wird nicht grundsätzlich gefragt, ob Rassismus möglich ist, sondern davon ausgegangen, dass es eben nicht so ist. Deswegen werden die Opfer rassistischer Gewalt in eine immense Beweisschuld gebracht. Das verhindert, solche Entwicklungen aufzuhalten und aufzuklären.
Wissen um Missstände führt nicht zu Änderungen
tagesschau.de: Gibt es statistische Angaben und Untersuchungsergebnisse für Deutschland?
Poutrus: Statistische Angaben dazu sind schwierig. Aber es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen bereits aus dem zurückliegenden Jahrzehnt, die sich mit Fragen von 'Cop Culture', homophoben und rassistischen Einstellungen in der Polizei und Affinität zum Autoritären unter Polizeibeamtinnen und -beamten auseinandergesetzt haben. Solche Untersuchungen haben sowohl Ausbildungseinrichtungen der Polizei selber, als auch Hochschulen und Universitäten außerhalb dieses Ausbildungszirkels durchgeführt.
Das Problem ist nicht ein zu geringes Wissen, sondern wie mit diesem Wissen umgegangen wird: In aller Regel führt die Vermehrung des Wissens über solche Zustände nicht automatisch zur Handlungsempfehlungen. Es setzt dann eher eine Debatte ein, die dieses Wissen de facto relativiert. Solange das so ist, befinden wir uns in einem schwierigen Teufelskreis.
tagesschau.de: Wie erleben Sie Rassismus im Alltag?
Poutrus: Ich kann nur sagen, dass meine Erfahrungen nach 1990, ich bin in der DDR aufgewachsen, sehr unterschiedlich sind. Einzelne Erfahrungen haben aber zu dem Eindruck geführt, dass die Polizei in Fragen rassistischer Übergriffe nicht auf meiner Seite steht - auch wenn öffentliche Verlautbarungen etwas anderes sagen. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass solche Erfahrungen, wie ich und viele andere sie mit der Polizei oder mit Beamtinnen und Beamten gemacht haben, Teil der Diskussionen sind. Das finde ich extrem schwierig.
Verletzende Gesten, Sprache, Ignoranz
tagesschau.de: Wo sollte gehandelt werden?
Poutrus: Handlungsbedarf besteht vor offensichtlichen Straftaten wie der in Hanau. Die wichtige Debatte ist die, was das über uns als Gesellschaft aussagt. Die Aversion, solche Diskussionen zu führen, ist so groß, dass ich manchmal am Rande der Verzweiflung bin. Das geht in den persönlichen Bereich hinein.
Erfahrungen mit rassistischer Gewalt, und ich rede nicht von der Polizei, sind so prägend, dass die Infragestellung dieser Erfahrung wie eine erneute Demütigung wirkt. Es verweist darauf, dass es um mehr als nur um eine grausame Einzeltat geht. Es geht um die Anfechtung der Menschenwürde von Leuten, die hier in diesem Land leben. Dabei geht es um Gesten, Sprache und um Ignoranz.
Wenn zum Beispiel in öffentlichen Diskussionsrunden über Rechtsradikalismus geredet wird, ist eher zu erwarten, dass ein Rechtsradikaler eingeladen wird als Opfer von Rechtsradikalismus. Das macht mich immer wieder sprachlos und verwundert, so dass ich glaube, dass das Problem viel tiefer sitzt. Eines der häufig vorgebrachten Argumente ist: ‚Du bist aber sehr empfindlich‘. Das hat mich früher sehr wütend gemacht. Heute würde ich sagen: 'So ist es, aber ich bin nicht so auf die Welt gekommen.'
Ein fundamentaler Unterschied zur DDR
tagesschau.de: Wie haben Sie Rassismus in der DDR erlebt?
Poutrus: Es hat in der DDR alles gegeben, was man sich in dem Zusammenhang vorstellen kann. Es hat Solidarität, Empathie und auch Liebe gegeben. Es hat aber eben auch Ablehnung, Verfolgung, Diskriminierung und Gewalt gegeben. Im Unterschied zur Bundesrepublik waren diese Dinge alle nicht Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung.
Wenn mich auch die öffentliche Debatte in der Bundesrepublik stark irritiert, so gibt es sie aber doch. Dass wir hier darüber reden können, empfinde ich als einen unvergleichbar großen Gewinn gegenüber der Situation in der DDR.
In der DDR habe ich immer gedacht, ich habe etwas falsch gemacht. Es hat den Mauerfall gebraucht, um zu verstehen, dass nicht ich etwas falsch gemacht habe, sondern dass hier etwas falsch läuft. Das ist für mich der fundamentale Unterschied.
Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de