DDR-Vergleiche "Gleichsetzung ist Bauernfängerei"
Der Berliner Historiker Patrice Poutrus weist die Behauptung zurück, die heutigen Verhältnisse seien ähnlich wie die in der DDR. Gleichsetzungen seien Bauernfängerei, so Poutrus im Interview.
ARD-faktenfinder: Inwieweit ähneln die derzeitigen Verhältnisse denen in der DDR, wo gibt es Unterschiede?
Patrice Poutrus: Die gegenwärtigen Verhältnisse in Ostdeutschland sind deutlich verschieden zu denen im SED-Staat. Dies gilt für die politische Ordnung der Bundesrepublik, aber ebenso und wenn nicht noch viel spürbarer für die ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Lebensumstände hierzulande. Diese rasanten Veränderungen haben viele Ostdeutsche als Zumutung und Überforderung empfunden und nicht wenige hegen deshalb einen Groll gegen die aktuellen Verhältnisse. Das trübt offenbar das Urteil über die untergegangene DDR und die Gründe für diesen Untergang, der ja maßgeblich von den Ostdeutschen herbeigeführt wurde. Das ermöglicht paradoxerweise zugleich eine krude Romantisierung der tatsächlichen Verhältnisse im SED-Staat.
Es geht also auch hier nicht um einen auf Fakten beruhenden systematischen Vergleich mit überwundenen Verhältnissen, sondern um eine willkürliche - gefühlte - Bezugnahme auf eine Geschichte, die es in der Vergangenheit so nicht gab. Die von namhaften AfD-Kadern aufgestellte Behauptung, wir würden heute in einer Diktatur leben, dient meiner Meinung nach der Legitimierung der antidemokratischen Ziele dieser Leute - und dieser Behauptung muss deshalb deutlich widersprochen werden.
Patrice Poutrus ist Historiker und lehrt an der Uni Erfurt. Er forscht zur DDR-Geschichte, Flucht und Vertreibung sowie Migration.
ARD-faktenfinder: Lassen sich die Wahlen in der DDR mit denen in der Bundesrepublik vergleichen?
Poutrus: Grundsätzlich kann eigentlich alles miteinander verglichen werden, wenn nicht eine willkürliche Gleichsetzung betrieben wird. Wenn also tatsächlich verglichen wird, dann werden die Unterschiede des Wahlsystems und Bedeutung von Wahlen im politischen System der DDR gegenüber der Bundesrepublik schnell deutlich. In der DDR gab es zwar regelmäßig Wahlen, diese dienten aber der nicht Entscheidung über die legitime und begrenzte Machtausübung für den Wahlsieger. Was auch bedeutete, dass es keine konkurrierenden Parteien und Kandidaten gab und geben sollte. Die Entscheidung über die Ausübung der Macht, durch die Staatspartei SED, war getroffen und sollte nie zur Disposition gestellt werden.
Dennoch waren die Wahlen nicht ohne Funktion in diesem System. Sie dienten der plebiszitären Mobilisierung "des Volkes" zugunsten des SED-Staates. Anhänger und Mitläufer demonstrierten so regelmäßig ihre Loyalität gegenüber dem SED-Staat. Skeptiker und Gegner dieses Systems wurden beispielsweise durch das demonstrative Fernbleiben von der Abstimmung erkennbar und mussten mit drakonischen Maßnahmen rechnen.
"Bauernfängerei"
ARD-faktenfinder: Sehen Sie Ähnlichkeiten beim Vorgehen der Stasi und der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der AfD oder beim Vorgehen gegen Hatespeech?
Poutrus: Bei aller persönlichen Skepsis gegenüber den Zielen und Methoden des Verfassungsschutzes und vor allem der tatsächlichen Verfassungstreue mancher seiner Mitarbeiter, ist diese Gleichsetzung von VS und MfS/Stasi schlicht irreführend bzw. Bauernfängerei. Das MfS war in seiner Zielsetzung, seiner Zusammensetzung und seinen Methoden nicht an eine festgeschriebene Verfassung und deren Grundsätze gebunden und musste sich weder öffentlicher Kritik aussetzen, noch war es parlamentarischen Gremien gegenüber berichtspflichtig.
Dass AfD-Kader aber in dieser Weise gegen vorhandene Regularien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung polemisieren und zugleich sich auch nicht am Normenkatalog des Grundgesetzes, insbesondere Artikel 1, messen lassen wollen, zeigt nach meiner Meinung, wie weit das Personal dieser Partei von einer Anerkennung der Verfassungsordnung der Bundesrepublik entfernt ist - und wie wenig ihre Politik auf eine Sicherung bzw. den Ausbau demokratischer Verhältnisse ausgerichtet ist. Vielmehr steht zu erwarten, dass diese Behauptungen dazu dienen werden, gegenüber politischen Gegnern - Stichwort Volksverräter - so vorzugehen, wie es das MfS tat. Das Argument wäre dann aber: Das machen doch alle so.
ARD-faktenfinder: Verschiedene AfD-Politiker verorten sich in der Tradition von DDR-Bürgerrechtlern - zurecht?
Poutrus: Die DDR-Bürgerrechtler waren vor 1989 sicher keine einheitliche Gruppierung und nach meiner Wahrnehmung liegen die gegenwärtigen politischen Positionen dieser wesentlichen Akteure in der friedlichen Revolution heute auch nicht näher beieinander. Das finde ich nicht weiter verwunderlich und deshalb wäre aber genau zu fragen, auf wen und welche Aussagen hier von der AfD Bezug genommen werden soll und auch wann das war.
Umgekehrt vertritt die AfD in ihrer Programmatik und in den öffentlichen Stellungnahmen ihres Personals oft genug Positionen, die mit autoritärem Staatsverständnis und national-chauvinistischer Interessenpolitik bezeichnet werden können. Die daraus abgeleiteten Forderungen nach einem auszubauenden Überwachungs- und Polizeistaat und der Verfolgung von politischen Gegnern - wieder Stichwort Volksfeinde -, ethnische Homogenität des Staatsvolkes bzw. Aberkennung von Bürger- und Menschenrechten für vermeintlich Gemeinschaftsfremde, können gut und gerne als die Idee von einer DDR 2.0 angesehen werden. Dass einige ehemalige DDR-Bürgerrechtlerinnen und -Bürgrechtler dies zumindest für legitim halten, finde ich tragisch.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de.