Historische Vergleiche Leben wir in einer "DDR 2.0"?
"Es fühlt sich schon wieder so an wie 1989" - das meint beispielsweise AfD-Spitzenpolitiker Höcke. Rechte Publizisten warnen vor einer neuen Diktatur. Sind die heutigen Verhältnisse tatsächlich mit der DDR vergleichbar?
"Es fühlt sich schon wieder so an wie in der DDR", verkündet AfD-Spitzenpolitiker Björn Höcke bei einer Wahlkampfrede. Dafür "haben wir nicht die friedliche Revolution gemacht", sagt Höcke, der aus Westfalen stammt, am Rhein zur Schule ging, in Hessen studierte und dort als Lehrer gearbeitet hat. Eine neue DDR wollten "wir" nicht erleben, so Höcke.
"Neue Wende" als zentrales Wahlkampfthema
Von "wir" redet beim Wahlkampfauftakt der AfD in Cottbus auch Andreas Kalbitz, der ebenfalls aus dem Westen kommt und seit 2017 Landesvorsitzender der Partei in Brandenburg ist: "Wir sind nicht 1989 in diesen Prozess eingetreten und die Menschen sind nicht auf die Straße gegangen, um das geliefert zu bekommen, was wir jetzt hier erdulden müssen."
Kalbitz' Brandenburger AfD hat die "neue Wende" zum zentralen Wahlkampfthema erkoren. Eine eigene Kampagnenseite wirbt mit "Werde Bürgerrechtler" für Stimmen für die AfD. Auf der Seite heißt es: "Es gibt weder eine Gleichheit der Lebensverhältnisse in West und Ost noch wirkliche Meinungsfreiheit. Wer heute "anders" denkt, wird genauso unterdrückt, wie es einst die Stasi tat."
Auch die Thüringer AfD wirbt für die Landtagswahl mit "Vollende die Wende" und "Wende 2.0". Sachsens Landeschef Jörg Urban sagte im Bezug auf die Nichtzulassung eines Teiles der AfD-Listenkandidaten: "Während man in der DDR noch dreist die Wahlergebnisse fälschte, sorgt man jetzt schon im Vorfeld dafür, dass der Wählerwille nicht umgesetzt werden kann."
Die AfD als "Neues Forum"?
AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen sprach anlässlich der Überprüfung von Verfassungsschutz-Mitarbeitern von "Stasi-Methoden". Alexander Gauland bezeichnete andere Parteien als "Blockparteien" und "Nationale Front".
In seiner Eröffnungsrede des AfD-Parteitags in Augsburg 2018 fühlte sich Gauland "an die letzten Monate der DDR erinnert" - eine Zeit, die er als Chef der hessischen Staatskanzlei erlebte. Er wolle die SED-Diktatur keineswegs bagatellisieren. Vergleichen sei aber nicht gleichsetzen und so fuhr er fort: "Wie damals besteht das Regime aus einer kleinen Gruppe von Parteifunktionären, einer Art Politbüro, und wieder steht ein breites gesellschaftliches Bündnis aus Blockparteifunktionären, Journalisten, TV-Moderatoren, Kirchenfunktionären, Künstlern, Lehrern, Professoren, Kabarettisten und anderen Engagierten hinter der Staatsführung und bekämpft die Opposition."
Die Rolle seiner Partei in dieser Analogie definiert Gauland so: "Die einzige Oppositionspartei AfD ist sozusagen das aktuelle Neue Forum."
Deutliche Unterschiede
Der Deutung der Bundesrepublik als einer "neuen DDR" müsse widersprochen werden, findet der Historiker Patrice Poutrus von der Universität Erfurt. Dort forscht er aktuell zu Erinnerungen an die Alltags- und Herrschaftswirklichkeit in der SED-Diktatur.
Die gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Lebensumstände seien deutlich verschieden zu denen im SED-Staat, so Poutrus im Interview. So hatten Wahlen in der DDR eine völlig andere Funktion als heute. "Die Entscheidung über die Ausübung der Macht, durch die Staatspartei SED, war getroffen und sollte nie zur Disposition gestellt werden."
Wahlen in der DDR hätten der Mobilisierung zugunsten des SED-Staates gedient. Wer ihnen demonstrativ fernblieb, musste mit drakonischen Maßnahmen rechnen, erklärt Poutrus. "Bei allen Mängeln und Widersprüchen, die das Wahlsystem in der Bundesrepublik aufweist, wer diesen deutlichen Unterschied nicht erkennen mag, muss sich fragen lassen, ob sie oder er letztlich nicht doch selbst ein Wahlsystem präferiert, dass dem des SED-Staates ähnlich wäre."
Stasi nicht an Verfassung gebunden
Auch einer Gleichsetzung des Verfassungsschutzes mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) widerspricht der Historiker. Das MfS sei - im Gegensatz zum Verfassungsschutz - nicht an eine festgeschriebene Verfassung und deren Grundsätze gebunden gewesen. Weder musste es sich öffentlicher Kritik aussetzen noch parlamentarischen Gremien gegenüber berichten.
"Dass AfD-Kader aber in dieser Weise gegen vorhandene Regularien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung polemisieren und zugleich sich auch nicht am Normenkatalog des Grundgesetzes, insbesondere Artikel 1 GG, messen lassen wollen, zeigt nach meiner Meinung, wie weit das Personal dieser Partei von einer Anerkennung der Verfassungsordnung der Bundesrepublik entfernt ist und wie wenig ihre Politik auf eine Sicherung beziehungsweise den Ausbau demokratischer Verhältnisse ausgerichtet ist."
"Billige Propagandalüge"
Ilko-Sascha Kowalczuk sieht in den DDR-Vergleichen der AfD gezielte geschichtspolitische Verzerrungen. Kowalczuk ist Historiker und Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Dem ARD-faktenfinder sagte er: "Das politische Parteisystem der DDR mit dem in der Bundesrepublik auf eine Stufe zu stellen, ist weder historisch noch politisch ansatzweise angemessen. Es ist eine billige Propagandalüge."
Auf eine solche Idee kämen wahrscheinlich nur Menschen, die entweder nicht in der SED-Diktatur lebten - wie Höcke, Gauland oder andere Führungskräfte der AfD - oder Personen, die in der DDR lebten und diese weder damals noch heute als Diktatur anerkannten, so Kowalczuk: "Die grundlegenden Menschenrechte waren in der DDR keine Realität, die Revolution von 1989 hat sie zu dieser werden lassen. In der Bundesrepublik werden sie garantiert, deshalb kann übrigens unter anderem auch die AfD politisch agieren."
DDR-Bürger auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag.
Die AfD-Geschichtspolitik bezüglich des SED-Staates sei eine Verharmlosung auch dieser Diktatur. Zielstrebig benutze die AfD symbolische Begriffe der Revolution von 1989, "um genau das zu untergraben beziehungsweise perspektivisch abbauen beziehungsweise vernichten zu wollen, wofür die Revolution von 1989 und die Bürgerrechtler von 1989 stehen und angetreten waren: Die Errichtung einer Offenen Gesellschaft".