Sachsens AfD-Spitzenkandidat Urban Der bürgerliche Radikale
Sachsens AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban ist ganz anders als sein Thüringer Kollege Björn Höcke. Vor allem im Auftreten. Doch inhaltlich sind die beiden nah beieinander, sagt Urban selbst.
Wie aus dem Ei gepellt, so tritt Jörg Urban auf. Ob er im Landtag am Rednerpult steht, am Wahlkampfstand in der Sommerhitze oder in seinen Social-Media-Posts: ein Anzug in gedeckten Farben, gerne blau oder beige, weißes Oberhemd, oft eine rote Krawatte - so zeigt Urban sich. Seit er Berufspolitiker ist, also seit zehn Jahren.
Seitdem gibt es keine Bilder von ihm, auf denen er beispielsweise eine grüne Softshell-Jacke trägt wie sein CDU-Kontrahent Michael Kretschmer. Auch Ärmelaufschläge mit den Initialen des eigenen Namens bestickt wie bei Tino Chrupalla oder goldene Uhren am Handgelenk wie bei Maximilian Krah sind Urbans Sache nicht. Genauso überlässt er das rhetorische Poltern meistens anderen. Bescheiden und bürgerlich kommt er daher. Farblos, sagen manche, auch parteiinterne Kritiker.
Andere, wie der Unternehmensberater und AfD-Stadtrat in Dresden, Hans-Heiner Krüpper, der Urban schon vor Jahren unterstützte, sagen: "Man kann ihn farblos nennen. Ich sage eher, dass er einer von uns ist, ein Mann der kleinen Leute. Einer, der nicht die große Show abzieht."
Die sächsische AfD hatte sich vielleicht auch aus diesen Gründen für Urban entschieden, als es vor sechs Jahren darum ging, über die Nachfolge von Frauke Petry an der Spitze von Fraktion und Partei zu entscheiden. Im Gespräch um den Parteivorsitz war auch der damalige Leipziger AfD-Bundestagsabgeordnete Siegbert Droese, der sich selbst als Provokateur bezeichnete. Doch die Partei entschied sich für den Leisetreter Urban. Seit 2018 ist dieser Nummer eins der sächsischen AfD.
Vom Atomkraftgegner zum Berufspolitiker
Dass Jörg Urban in der AfD so schnell Karriere gemacht hat, mag aber auch vor einem anderen Hintergrund überraschen. Denn in der ersten Hälfte seines Berufslebens war der heute 60-Jährige Umweltaktivist. Nach seinem Studium als Wasserbauingenieur an der TU Dresden arbeitete er zunächst einige Jahre lang als freiberuflicher Bauingenieur.
1998 wurde der aus Meißen stammende Urban dann Geschäftsführer des noch zu DDR-Zeiten gegründeten Umweltvereins "Grüne Liga". In dieser Zeit reihte er sich in Demonstrationen von Atomkraftgegnern ein, die gegen den Transport von Castoren vom Forschungsreaktor Dresden-Rossendorf nach Ahaus Straßen blockierten.
Auch gegen die Fällung von Allee-Bäumen ging Urban auf die Straße. Damals allerdings noch nicht im Anzug, sondern im flatternden Hemd mit afrikanischem Muster. Über die Äußerlichkeiten mag man lächeln, vor 25 Jahren hat sich wohl jeder anders gekleidet als heute, aber vom Ökoaktivisten zum führenden Protagonisten einer rechtsextremen Partei?
Die AfD stört sich daran offenbar nicht, sonst hätte sie ihn nicht wiederholt als Landesvorsitzenden gewählt, ihn erneut als Spitzenkandidaten aufgestellt. Und auch Urban selbst mag keinen Widerspruch in seiner abwechslungsreichen Vita erkennen. Zum einen sagte er: "Ich bin selbstverständlich immer noch Naturschützer." Die AfD setze sich beispielsweise sehr kritisch mit der Naturzerstörung durch die erneuerbaren Energien auseinander.
"Artenschutz ist etwas Anderes als Klimaschutz. Das habe ich in der Grünen Liga gelernt. In dieser Zeit haben sich auch viele Naturschützer von den Grünen abgewendet", behauptet Urban, "denn die machen Klimaschutz und das bedeutet meistens Naturzerstörung." Und zum anderen spräche es für Offenheit, wenn man sich anhand von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen politisch neu positioniere, so wie er es in puncto Atomenergie getan habe.
Grüne Liga: "Keine Gemeinsamkeiten mehr"
Der ehemalige Atomkraftgegner Urban und die AfD fordern schon seit Längerem die Nutzung von Kernenergie in Deutschland. Dass auch sein Landesverband mittlerweile vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft wurde, diesen Schuh mag Urban sich sowieso nicht anziehen. Er sei nicht rechtsextrem und der Verfassungsschutz sowieso politisch instrumentalisiert, sagt Urban. Nichtsdestotrotz ging sein Landesverband gegen die Einstufung juristisch vor, scheiterte aber in erster Instanz.
Urban war 16 Jahre lang hauptberuflicher Umweltschützer bei der Grünen Liga. Dieses Amt legte er erst nieder, als er für die AfD 2014 in den sächsischen Landtag einzog. Die Grüne Liga distanziert sich mittlerweile öffentlich von ihrem ehemaligen Landesgeschäftsführer. In einer im Internet veröffentlichten Erklärung heißt es vom Bundesvorsitzenden René Schuster: "Wir haben mit Erschrecken die politische Entwicklung von Jörg Urban zur Kenntnis genommen und können keine Gemeinsamkeiten mehr erkennen."
"Dann richtet das Volk und dann gnade euch Gott!"
Jörg Urban ist in jedem Fall, um es vorsichtig zu formulieren, vielschichtig. Da gibt es den freundlich lächelnden Anzugträger mit der bisweilen staubtrockenen Ausstrahlung eines Apotheken-Fachangestellten, der Journalisten und politischen Kontrahenten geduldig Rede und Antwort steht.
Aber wenn Urban - natürlich tadellos gekleidet - auf einer Rednertribüne vor tausenden wütenden Demonstranten steht, dann ist es mit der Freundlichkeit auch mal schnell vorbei. Dann zieht er die Stirn in Falten, schaut ernst und besorgt hinter seiner modischen Brille hervor, und sendet mit erhobenem Zeigefinger radikale Botschaften in Richtung Politik und Medien: "Einst wird wieder Gerechtigkeit walten, dann richtet das Volk und dann gnade euch Gott!" Das Publikum, das an jenem Tag im Oktober vergangenen Jahres vor allem aus Mitgliedern der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative bestand, jubelt ob dieses historischen Zitates, das der Politikprofi Urban an dieser Stelle so zielsicher platziert.
Reden bei Pegida
Ohnehin hat Urban keine Scheu vor der Straße, tritt oft als Redner bei Demonstrationen auf. Bei "Pegida" bereits, als die rechtsextremistische Bestrebung noch auf der Unvereinbarkeitsliste der Bundes-AfD stand. Damals sagte Urban, die AfD und "Pegida" seien dieselbe Bewegung.
Auch im sächsischen Verfassungsschutzbericht von 2023 werden Reden von Urban bei "Pegida" dokumentiert. Danach sprach er dort vom "Bevölkerungsaustausch", von "hundertausendfach importierter Gewalt" durch Migranten. Und über Journalisten urteilte er, dass diese "die wirklichen Freiheitsfeinde sind, die uns unserer Kultur berauben wollen". Damit bediene Urban ein in rechtsextremistischen Kreisen typisches Narrativ einer elitären und "volksfeindlichen" Medienlandschaft, befand das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz.
Während der Corona-Pandemie solidarisierte Urban sich mit der "Querdenker"-Bewegung, nannte diese die mutigsten Menschen Deutschlands, weil diese sich trauen würden, gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf die Straße zu gehen. Dabei hatte Urban zu Beginn der Pandemie im Sächsischen Landtag noch vehement stärkere Schutzmaßnahmen eingefordert. Ein weiteres Beispiel für eine politische Neu-Positionierung Urbans, diesmal allerdings binnen kürzerer Zeit.
Besondere Beziehung zu Russland
Heutzutage ist Urban vor allem auf sogenannten Friedensdemonstrationen anzutreffen. In vielen Orten Sachsens finden solche Demos nach wie vor jeden Montag statt. Vor einigen Jahren war das beherrschende Thema dieser Montagsdemonstrationen die Migration, dann war es die Corona-Pandemie, nun sind es die Waffenlieferungen in die Ukraine und die Russlandsanktionen. Es sind vielfach dieselben Menschen, die sich hier Montag für Montag treffen, seit Jahren.
Ortsbesuch. An einem Montagnachmittag im August in Bautzen. Am Eingang der Fußgängerzone, am Reichenturm, herrscht eine Stimmung zwischen Familientreffen und Vereinsfest. Zum 184. Mal treffen sich die Montagsdemonstranten an diesem Tag, wird stolz von der LKW-Anhänger-Bühne verkündet, einige von ihnen tragen gelbe Westen mit der Aufschrift "Ungeimpft und ungebeugt".
Als Jörg Urban von seinem Wahlkampfstand in Richtung Demonstranten geht, wird er von vielen herzlich begrüßt. Bautzen ist der Wahlkreis von Urban, der privat am Stadtrand von Dresden wohnt. Es sei für ihn Tradition geworden, montagnachmittags in Bautzen dabei zu sein, erzählt er, als er neben zwei Frauen steht, die ein Plakat der "Freien Sachsen" in die Höhe halten.
Es gibt einen Beschluss der Bundes-AfD, der jede Kooperation mit den rechtsextremen Freien Sachsen untersagt. Jörg Urban weiß das und läuft anschließend dennoch im Demonstrationszug mit, in dem gleichermaßen "Freie Sachsen"- und AfD-Fahnen geschwenkt werden.
Es gehe um die Sache, sagt Urban, um Frieden und ein Ende der Russland-Sanktionen. Beides liegt Urban auch persönlich am Herzen. Er habe ein besonderes Verhältnis zu Russland, erzählt Urban, seit er während seiner Studienzeit zwei längere Aufenthalte im damaligen Leningrad verbracht hat. Seine Frau, mit der er drei erwachsene Kinder hat, stammt aus Russland.
Dieses Land sei eine Kulturnation, sagt Urban und er bedauert, dass derzeit vor allem die Medien versuchen würden, Russland als barbarisches Land darzustellen: "Mir tut das weh, dass wir uns politisch von Russland abkoppeln. Das tut uns nicht gut." Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins auf die Ukraine? Für Urban in diesem Zusammenhang nicht erwähnenswert. Auf seinen Social-Media Kanälen äußert er vor allem Kritik an der Ukraine, schreibt beispielsweise von der "Ukraine und ihren SS-Truppen". Im Landtag behauptete er vor kurzem, die Ukraine sei der korrupteste Staat der Welt, demokratische Werte würden dort nicht verteidigt.
"Es geht nicht um mich"
"Damit Sachsen Heimat bleibt" ist der Slogan der sächsischen AfD im Landtagswahlkampf 2024. Für den aus dem sächsischen Elbtal stammenden Urban sind die Pillnitzer Weinberge ein Stück persönliche Heimat. Den Ort hat er zum Interview über seine Person vorgeschlagen, weil er hier sonntags gerne mit seiner Frau spazieren gehe. Während er da steht und den Blick über die Weinhänge und die Weinbergskirche streifen lässt, witzelt er darüber, dass ihm noch der Strohhut fehle, um hier stilsicher unterwegs zu sein. Ein wenig unterscheidet ihn also noch vom Sommerfrische-Look der bürgerlichen Elbhang-Bewohner.
Auf den großen Wahlkampf-Bühnen der AfD prangt zudem in großen Lettern das Wort "Machtwechsel", damit auch jede Kamera die Wunsch-Botschaft unters Volk bringt. Ob im Falle des Falles dann tatsächlich Jörg Urban der erste Ministerpräsident Deutschlands wird, der den "Machtwechsel" vollzieht?
Der Spitzenkandidat der sächsischen AfD antwortet auf diese Frage seltsam ausweichend: "Es geht nicht um mich. Es geht darum, dass wir das Land verändern wollen, dass die AfD in Regierung kommt. Meine Person spielt da keine große Rolle."
Jörg Urban, der Bescheidene, der sich in den Dienst der Sache stellt - und der Jörg Urban, den Radikalen, im Schatten lässt.