75 Jahre FDP Immer wieder nah an der Fünf-Prozent-Hürde
Kaum eine Partei hat in der Bundesrepublik mehr Höhen und Tiefen durchlebt als die FDP. Auch 75 Jahre nach ihrer Gründung scheint sie in einer Koalition verhaftet, die ihr mehr schadet als nützt.
Einer der denkwürdigsten Auftritte des FDP-Chefs und Finanzministers Christian Lindner dauerte wohl kaum eine ganze Minute. In diesen wenigen Sekunden offenbarte sich das grundsätzliche Dilemma, in dem die FDP aktuell zu stecken scheint.
Es war Ende November, keine zehn Tage nach dem schicksalhaften Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Ampel die finanzielle Grundlage für ihr politisches Handeln unter den Füßen weggezogen hatte. Lindner musste hier die erneute Aussetzung der Schuldenbremse für das Jahr 2023 erklären - alles andere hätte die Ampel noch näher an den Abgrund gerückt, an dem sie ohnehin schon stand und immer noch steht.
Doch es fiel Lindner sichtlich schwer. Er schaffte weder das Wort "Schuldenbremse" noch "Notlage" überhaupt in den Mund zu nehmen. Und dann sprang er auch schon wieder von der Bühne. Die Beobachter blieben ratlos zurück. Was war das jetzt? Die eigentliche Erklärung musste schriftlich hinterher gereicht werden. Für die FDP ein Moment der Niederlage.
Größte Krise seit 2013
"Die Partei ist seit Jahren viel zu sehr auf eine rein wirtschaftsliberale Ausrichtung fixiert", beschreibt der Jurist und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke Lindners Dilemma.
Lindner habe die Einhaltung der Schuldenbremse zu einem Parteidogma erhoben, aus dem er nur schwer ausbrechen kann. Sein 2017 nach Gesprächen zur Bildung einer Jamaika-Koalition mit CDU und Grünen gefasster Satz: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", habe sich zudem fest in der gesamten Partei verankert.
"Nach 2013, als die Liberalen aus dem Bundestag flogen, ist das zweifellos die größte Krise der FDP", sagt von Lucke über den aktuellen Zustand der Liberalen. Die FDP hat schon viele Höhen und Tiefen in ihrer 75-Jährigen Geschichte erlebt und auch einige Wendungen.
1948 gegründet als Partei der liberalen Marktwirtschaft stand sie zunächst rechts von der CDU. Vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren unter Walter Scheel öffnete sie sich dann auch etwas nach links.
Liberale Ansätze "unter die Räder gekommen"
Mit Vertretern wie etwa dem Soziologen Ralf Dahrendorf habe die FDP Anfang der 1970er-Jahre einen sozial geprägten Liberalismus mit durchaus ökologischen, kapitalismuskritischen Ansätzen vertreten, so von Lucke: "Das waren fast schon grüne Vordenker."
Aber auch berühmte Liberale wie Burkhard Hirsch, Gerhart Baum oder die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger haben sich in den Folgejahren verstärkt für bürgerliche Freiheitsrechte eingesetzt und das politische Portfolio der Liberalen deutlich geweitet. Leutheusser-Schnarrenberger trat aus Protest gegen den "Großen Lauschangriff", eine akustische Wohnraumüberwachung, 1996 sogar von ihrem Ministerposten zurück. Bis ins neue Jahrtausend haben Hirsch und Baum mehrere Klagen zum Schutz von Bürgerrechten vor dem Bundesverfassungsgericht geführt.
Konnten die Liberalen diese Facette während der Corona-Pandemie als stetige Mahner und Warner gegen zu viel staatliche Beschränkungen noch bedienen, ist die Positionierung heute weniger bis kaum noch relevant. Starke links- oder bürgerrechtsliberale Stimmen wie die von Hirsch, Baum oder Leutheusser-Schnarrenberger seien zudem in der FDP "unter die Räder gekommen", sagt der Experte von Lucke.
Das Zünglein an der Waage
Politisch zeigten sich die Liberalen stets flexibel. Sie verhalfen im Wechsel jeweils der CDU und SPD zur Kanzlerschaft, ohne selbst je realistische Chancen auf das Amt zu haben. Nur Guido Westerwelle versuchte es, aber es war wohl eher nicht ganz ernst gemeint. Es war ein Spaß-Wahlkampf 2002 mit dem Slogan "Strategie 18" - für 18 Prozent. Immerhin kamen die Liberalen mit den ungewöhnlichen Auftritten etwa bei "Big Brother" und einer ausgedehnten Tour im "Guido Mobil" auf mehr als sieben Prozent.
Für die Liberalen ein Erfolg, ist die Fünf-Prozent-Hürde doch eine dauerhafte Bewährungsprobe. 2010 bezeichnete Lindner, damals noch als Generalsekretär der FDP, die eigene Wählerschaft als "scheues Reh", das viel Zutrauen brauche, "bis es auf die Lichtung kommt". Knacke dann ein Ast, sei es schnell fort.
In der aktuellen Ampelkoalition scheint das Knacken auf der politischen Lichtung besonders laut zu sein: Seit zwei Jahren hat sich die FDP zur Serien-Verliererin bei den Landtagswahlen entwickelt. Zuletzt scheiterte die Partei in Bayern an der Fünf-Prozent-Hürde.
Profilierung durch Polarisierung
Bereits zu Beginn habe die FDP in der Ampel zu sehr die Rolle der Opposition in der Regierung übernommen, so von Lucke. "Vor allem nach der gescheiterten Wahl in Niedersachsen Ende 2022 haben sich die Liberalen in der Ampel dann aber noch einmal selbst radikalisiert", analysiert der Politologe.
Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bezeichnete den eigenen grünen Koalitionspartner gar als "Sicherheitsrisiko". Der Streit über das Heizungsgesetz, die Migrationspolitik oder jetzt beim Haushalt führt die Ampel regelmäßig an ihren eigenen Abgrund.
Die Reißleine ziehen die Liberalen nicht - jedenfalls noch nicht. Das scheue Reh der Wählerschaft geht allerdings immer mehr in Deckung. Im Bund steht die FDP nach aktuellen Umfragen nur noch bei vier Prozent.