"Einsamkeitsbarometer" Corona hat einsamer gemacht - vor allem Jüngere
Die Bundesregierung will gegen Einsamkeit vorgehen. Die Grundlage dafür soll das "Einsamkeitsbarometer" schaffen. Es zeigt, wer sich besonders einsam fühlt - und wie sich das durch Corona verändert hat.
Wie einsam fühlen sich die Menschen in Deutschland? Und wie hat sich das in den vergangenen Jahren verändert? Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat Daten einer Langzeitanalyse zu dieser Fragestellung vorgestellt. Eine zentrale Erkenntnis dieses sogenannten Einsamkeitsbarometers: Corona und die im Zuge der Pandemie erlassenen Beschränkungen hatten massive Auswirkungen auf das Einsamkeitsempfinden.
Der Datenauswertung zufolge nahm das Einsamkeitsempfinden der Erwachsenen in Deutschland in den Jahren 1992 bis 2017 tendenziell eher ab, mit Corona gab es dann einen sprunghaften Anstieg. So lagen die in der Studie definierten "Einsamkeitsbelastungen" bei der Gesamtbevölkerung 2017 bei 7,6 Prozent. 2020 - im ersten Jahr der Corona-Pandemie - stiegen sie auf 28,2 Prozent. 2021 gingen sie auf 11,3 Prozent zurück, lagen aber weiter über den Werten aus der Zeit vor der Pandemie.
Kaum Unterschiede zwischen Stadt und Land
Frauen empfinden in größerem Maß Einsamkeit als Männer und bei jüngeren Altersgruppen war der Anstieg stärker festzustellen als bei älteren: Vor Ausbruch der Corona-Pandemie war das Einsamkeitsempfinden vor allem in der Gruppe der Über-75-Jährigen überproportional hoch, danach bei den Unter-30-Jährigen.
Überdurchschnittlich stark von Einsamkeit betroffen sind der Studie zufolge Alleinerziehende, Arbeitslose, gering Qualifizierte, chronisch Kranke sowie Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung. Kaum Unterschiede gibt es demnach zwischen Menschen auf dem Land oder in der Stadt sowie zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern.
"Tendenz zur Chronifizierung" von Einsamkeit
Das "Einsamkeitsbarometer" bestätigt erste wissenschaftliche Untersuchungen zu den Folgen der Corona-Maßnahmen. Während der verschiedenen Phasen der Corona-Pandemie hatten Bund und Länder immer wieder Verordnungen erlassen, mit denen soziale Kontakte stark eingeschränkt wurden, um so die Ansteckungsgefahr zu verringern.
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), das gestern Forschungsergebnisse zum Thema Einsamkeit vorgestellt hatte, kommt zu dem Schluss, dass der Wegfall der Kontaktbeschränkungen nur begrenzt zu einer "sozialen Erholung" geführt hat. "In der postpandemischen Phase besteht die Einsamkeit auf hohem Niveau fort - es zeigt sich eine Tendenz zur Chronifizierung", so Sabine Diabaté, wissenschaftliche Mitarbeiterin am BiB.
Anders als das "Einsamkeitsbarometer" des Bundesfamilienminsteriums, das nur den Zeitraum bis 2021 betrachtet, umfasst die BiB-Untersuchung auch noch den Winter 2022/2023, in dem kaum noch Corona-Einschränkungen galten.
Einsamkeit beschreibt die "unangenehme Erfahrung, bei der die eigenen sozialen Beziehungen entweder quantitativ oder qualitativ als unzureichend empfunden werden".
Paus: "Herausforderung für die gesamte Gesellschaft"
Familienministerin Paus nannte Einsamkeit eine "Herausforderung für die gesamte Gesellschaft". Sie betreffe mehrere Millionen Menschen und habe sich in der Pandemie verstärkt. "Wir dürfen die Augen vor 'sozialem Long Covid' nicht verschließen", sagte Paus.
Das "Einsamkeitsbarometer" soll künftig jedes Jahr veröffentlicht werden und ist Teil der "Einsamkeitsstrategie", die die Bundesregierung im Dezember beschlossen hatte. Deren Ziel ist, Maßnahme zu entwickeln, um Menschen aus dem Gefühl der Einsamkeit zu holen.
Verband fordert Investitionen in Begegnungsorte
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) fordert von der Politik deutlich mehr Geld für gezielte Maßnahmen gegen Einsamkeit. Nötig seien zusätzliche Investitionen in Personal und Strukturen öffentlicher Begegnungsorte wie Bibliotheken, Schwimmbäder, Ärztehäuser, Quartiersläden, inklusive Schulen und Kitas sowie ein lückenloses Breitbandnetz, sagte die Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz brachte die Idee ins Gespräch, mehr Seniorenämter in Städten und Gemeinden einzurichten. Ähnlich wie Jugendämter sollten diese "aufsuchend und vorbeugend im Quartier arbeiten", erklärte Vorstand Eugen Brysch. "Einsamkeit trifft alle Generationen. Sie ist vielleicht die größte Volkskrankheit in Deutschland", sagt er.
Ministerin Paus will das Thema Einsamkeit "aus der Tabu-Zone holen" und kündigte unter anderem eine "Aktionswoche gegen Einsamkeit" vom 17. bis 21. Juni an und eine Kampagne, bei der unter anderem Kurzvideos über sozialen Medien ausgespielt werden sollen, um dort junge Menschen zu erreichen.