Streit über Wege bei Terrorbekämpfung Mehr Sicherheit durch Datenaustausch?
Mehr Sicherheit durch mehr Datenaustausch in Europa - das ist das Ziel von Innenminister de Maizière. Fehlende Konsequenzen aus Europareisen von Terroristen offenbaren bestehende Lücken. Doch nicht nur der Verfassungsschutz bremst.
Italien, Griechenland, Ungarn, Deutschland, Belgien, Frankreich, die Liste der Länder ist lang, durch die der jüngst in Brüssel festgenommene mutmaßliche Terrorist Salah Abdeslam reiste, offensichtlich vor allem, um zukünftige Attentäter zu transportieren. Wie etwa den zweiten Brüsseler Flughafenattentäter, Najim Laacharoui, der offenbar einen gefälschten Pass hatte. Keiner hielt sie auf.
Und jetzt nach den Anschlägen in Brüssel, wie auch schon nach den Anschlägen in Paris 2015, werden sofort die Rufe der EU-Innenminister nach mehr Informationsaustausch laut.
"Sicherheit hat in Krisenzeiten Vorrang"
Innenminister Thomas de Maizière sagte am Tag der Brüsseler Anschläge in den Tagesthemen: "Datenschutz ist schön, aber in Krisenzeiten hat die Sicherheit Vorrang.“ Und er schlägt vor, die Datentöpfe anders und besser zu vernetzen. In einem Papier des Bundesinnenministeriums, das dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, heißt es:
Es ist von größter Bedeutung, Informationen aus den Bereichen Reise, Migration und Sicherheit zu teilen. Existierende Lücken beim Informationsaustausch auf EU-Ebene müssen geschlossen werden. Diese Lücken sind nicht das Ergebnis einer Schwäche des Systems oder der Institutionen, sondern bereits existierende Quellen und Daten müssen gestärkt, miteinander verbunden und aktiver genutzt werden. (…) Wichtige Datensysteme sind nicht miteinander kompatibel. Im Ergebnis können Datensätze, die ähnliche oder sogar gleiche Daten enthalten, nicht miteinander kombiniert werden. Das kann zu blinden Flecken in der europäischen Sicherheitsarchitektur führen." (Original englisch)
Konkret möchte der Innenminister die europäischen Datensammlungen für Fahndung, Fingerabdrücke, DNA, Visa, Reise- und Passagierinformationen verknüpfen. Manche dieser Datenbanken sind erst in der Vorbereitung, andere schon seit Jahren in Gebrauch.
Neue Maßnahmen ohne Evaluierung der bisherigen
Kritiker befürchten, dass damit auf europäischer Ebene das Instrument der Rasterfahndung implementiert werden soll. Matthias Monroy, Autor für netzpolitik.org und Mitarbeiter des Linkspartei-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, erklärt: "Das Problem ist, dass nicht nur Betroffene ins Raster geraten, sondern alle, die in irgendwelchen Registern landen, miteinander abgeglichen werden. Aber auch, dass wieder mit neuen Anti-Terrormaßnahmen geantwortet wird, obwohl eigentlich gar nicht klar ist, ob die bestehenden Maßnahmen erfolgreich oder erfolglos waren." Monroy verweist auf ein europäisches Forschungsprojekt, das vor einem Jahr herausgefunden habe, "dass die EU 239 Anti-Terror-Maßnahmen ins Werk gesetzt hat. Die müssten eigentlich erst einmal evaluiert werden."
Polizeivertreter sehen das anders. Sie wünschen sich eine bessere Verknüpfung der verschiedenen Datenbanken auf europäischer Ebene und kritisieren, dass auch in Deutschland so mancher sinnvolle Datentransfer nicht stattfindet. Jörg Radek, stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), nennt etwa das Beispiel des Pariser "Beil-Attentäters", der in Deutschland mehrmals als Flüchtling in Erstaufnahmestellen registriert wurde, dessen Daten aber nie polizeilich abgeglichen wurden. "Was nützen mir Registrierungen, wenn sie nicht die Schnittstellen zu denjenigen haben, die dann, wenn es drauf ankommt, einen Zugriff tätigen können", sagt Radek.
Keine Kosequenzen aus Informationen zu Abdeslam
Bei Salah Abdeslam, dem mutmaßlichen Logistiker der Brüsseler Anschläge, verhielt es sich etwas anders. Seine Daten fanden sich in einer europäischen Polizeidatenbank, im Schengen Informationssystem (SIS). Er war wohl zur beobachtenden Fahndung ausgeschrieben, aber eben nicht als potenzieller Terrorist. Es fehlte also die richtige Information.
Mehrere Reisen von Salah Abdeslam durch Europa wurden von den Sicherheitsbehörden registriert, blieben aber ohne Konsequenzen.
Daheim in Belgien war Abdeslam bisher vor allem als Kleinkrimineller aufgefallen. Als er im August 2015 von Brüssel nach Italien und von dort mit der Fähre nach Griechenland reiste und wenige Tage später zurück, wurden diese Reisen zwar gemeldet, aber sie blieben ohne polizeiliche Konsequenzen.
Genauso verhielt es sich einen Monat später: Im September war Salah Abdeslam in Ungarn, um die im Schatten des Flüchtlingsstroms nach Europa eingereisten IS-Kämpfer Najim Laachraoui und Mohammed Belkaid nach Brüssel zu bringen. Alle drei wurden am 9. September 2015 von der österreichischen Polizei an der Raststation Aistersheim angehalten und kontrolliert, aber schließlich durchgewunken. Die gefälschten Reisedokumente von Abdeslams Mitreisenden erregten nicht den Argwohn der Beamten und die Beobachtungsmeldung von Abdeslam im SIS war Routine. So etwas sei deswegen auch keine "polizeiliche Panne", erklärt Radek von der GdP, denn die Beobachtungsmeldung sei ja - wie gefordert - in das System eingetragen worden.
Abaaoud reiste ungehindert durch Europa
Trotzdem werfen die vielen unbehelligten Reisen der Terroristen quer durch Europa Fragen auf. Vor Abdeslam nutzte Abdelhamid Abaaoud, der Drahtzieher der Anschläge von Paris und damit ein weiterer Top-Terrorist, die Reisefreiheit Europas. Als der im Januar 2014 von Deutschland in die Türkei flog, war sein Name ebenfalls im SIS ausgeschrieben, zur Beobachtung, nicht zur Festnahme. Er durfte also ausreisen, sein Abflug wurde in der Datenbank dokumentiert.
Abaaouds eigentliches Ziel waren aber die Stellungen der IS-Kämpfer in Syrien, islamistische Propagandavideos sind sein Zeugnis. Unbeobachtet von den Behörden kehrte er zurück nach Europa. Aus einer konspirativen Wohnung im Athener Stadtteil Pagkrati soll Abaaoud dann Anfang 2015 Terroristen in Belgien koordiniert haben. Geheimdienste hatten damals ein Handysignal geortet, aus Athen waren verdächtige Anrufe nach Belgien gegangen.
Am 2. Januar, also noch vor den Anschlägen von Charlie Hebdo, baten belgische Behörden die Griechen, die SIM-Karte des Telefons zu lokalisieren, allerdings zunächst, ohne Namen zu nennen. Der griechischen Polizei soll es dann gelungen sein, den Aufenthaltsort des Telefons zu finden. Auch die europäische Polizeibehörde Europol soll eingebunden gewesen sein. Ein Zugriff scheiterte. Während am 15. Januar 2015 die Terrorzelle im belgischen Verviers zerschlagen werden konnte, kam die griechische Anti-Terror-Polizei in Athen zu spät. Abaaoud war schon wieder abgetaucht. Spätestens mit der Veröffentlichung einer Sicherheitsanalyse durch die US-amerikanische Homeland Security aus dem Mai 2015 war auch der Öffentlichkeit bekannt, dass es Abaaoud war, der aus Athen die Terrorzelle im belgischen Verviers gesteuert hatte.
Offenbar Anschlagspläne auf Flughafen lange bekannt
Griechische Journalisten mit guten Kontakten in Athener Sicherheitskreise wollen nun erfahren haben, dass in den beiden durchsuchten Wohnungen die Ermittler nicht nur gefälschte französische Pässe fanden, sondern auch Anschlagspläne auf einen Flughafen. Die Funde hätten außerdem nahegelegt, dass der Brüsseler Flughafen gemeint sei. Die griechischen Behörden hätten alle diese Informationen an die Belgier weitergegeben, aber offensichtlich ohne, dass die die richtigen Schlüsse gezogen hätten.
Vor allem die Nachrichtendienste wurden in der Vergangenheit wegen ihrer vermeintlichen Bunkermentalität kritisiert. Gegen diesen Vorwurf wehrt sich Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Er sagt, dass es schon jetzt einen sehr regen, europäischen Informationsaustausch unter den Nachrichtendiensten gebe. Eine europäische Anti-Terrorismuszentrale, in der Polizei und Nachrichtendienste aller EU-Staaten Informationen zur Verfügung stellen, betrachtet er allerdings mit Skepsis. "Ich sehe natürlich eine Besorgnis, dass eine Information der Nachrichtendienste, wenn sie zu den Polizeien kommt und nicht valide geprüft ist, zu polizeilichen Maßnahmen führt, die Menschen belasten kann, obwohl diese Information nicht wirklich belastbar ist."
GTAZ in Deutschland 2004 gegründet
In Deutschland arbeiten Polizei und Geheimdienste streng getrennt. Allerdings wurde angesichts der Terrorbedrohung 2004 in Berlin das Gemeinsame Terrorismus Abwehrzentrum (GTAZ) gegründet, knapp 40 Polizei- und Nachrichtendienstbehörden von Bund und Ländern arbeiten zusammen. Dort geht es um den schnellen Austausch von Informationen über Terrorverdächtige, jenseits von Eitelkeiten und Zuständigkeiten.
Heinrich Amadeus Wolff, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth, sieht das kritisch. "Das GTAZ ist höchst effizient, es ist aber - was die Rechtsgrundlage angeht - eine Dunkelkammer. Und diese Dunkelkammer ist rechtlich schwer zu ertragen von Menschen, die andere Interessen haben als nur die Sicherheitsgewährleistung. Das jetzt auf Europa zu übertragen, wäre keine gute Idee", sagt Wolff.
Polizei und Nachrichtendienste in Europa sind in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite sollen sie Terroranschläge verhindern, Gefährder observieren und dingfest machen, auf der anderen sollen sie die Freiheiten Europas nicht beschränken, nicht nach ethnischen, religiösen oder politischen Rastern selektieren und die unbescholtenen Bürger Europas in Ruhe lassen. Ein Dilemma, das nicht allein durch mehr Datensammeln und Datenaustausch aufzuheben ist. Zumal wenn mutmaßliche Terroristen ohnehin mit gefälschten Pässen unterwegs sind.
ARD-Mitarbeiter in Rom und Athen unterstützten die Recherchen.