Deutsche EU-Ratspräsidentschaft Mehr als nur eine Krise
Ab heute übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft - und hat mit mehr als einer Baustelle zu kämpfen. Ob Corona-Krise, Brexit, Green Deal oder Asylrecht - einfache Aufgaben gibt es nicht.
Wie viel soll die EU für das Corona-Wiederaufbauprogramm ausgeben? Wie und an wen und wofür wird das Geld verteilt? Wer kontrolliert, was die Länder damit machen? Sollen nur Kredite zur Verfügung gestellt werden oder auch Zuschüsse fließen? Wann geht die Rückzahlung der gemeinsamen Schulden los? Und: Wird es im Gegenzug Reformauflagen für die Corona-Hilfe geben?
Fragen über Fragen, jede einzelne davon hochexplosiv. Und als ob das nicht schon kompliziert genug wäre, hängt das Ganze auch noch mit dem "normalen" EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre zusammen, über den die Staaten schon seit Monaten streiten.
Nicht nur, aber auch deshalb, weil viele die europäischen Fördergelder daran knüpfen wollen, dass sich die Empfänger an die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze der Gemeinschaft halten - was in Ungarn und Polen, vorsichtig gesagt, nicht gerne gehört wird. Vielleicht sorgt ja die Corona-Krise dafür, dass unter deutscher Vermittlung ein Kompromiss zustande kommt - schließlich sind die meisten Länder dringend auf Geld aus Brüssel angewiesen, um ihre Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.
Beim Asylrecht scheiden sich die Geister
Und die Asylpolitik? Kaum etwas ist in Europa so umstritten wie der Umgang mit Flüchtlingen und Migration. Ein neues Asylrecht muss her, darin sind sich alle einig, nur über das "wie" gehen die Meinungen weit auseinander. Vor allem an der Frage, ob Flüchtlinge in der gesamten EU verteilt werden sollen, scheiden sich die Geister. Osteuropäische Staaten wie Ungarn, Polen oder die Slowakei sagen kategorisch "Nein".
Die EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen will in den nächsten Wochen einen neuen Reform-Vorschlag machen. Nach Ansicht von Bundesinnenminister Horst Seehofer sollte nach Möglichkeit schon an den Außengrenzen der EU entschieden werden, wer Aussicht auf Asyl hat, und wer nicht. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssten sich auf andere Weise solidarisch zeigen, zum Beispiel mit Geld.
Klimaschutz ist politische Großbaustelle
Der Klimaschutz ist wegen der Corona-Pandemie fast in Vergessenheit geraten, aber als politische Großbaustelle natürlich immer noch da. Bis 2050 will die EU schließlich "klimaneutral" sein, sprich: nur noch so viel Treibhausgas in die Luft blasen wie entweder gespeichert oder anderswo eingespart werden kann. Für den Weg dahin müssen neue Etappenziele gesetzt und bestehende nachgeschärft werden - zum Beispiel das aktuell noch angepeilte Minus von 40 Prozent bei den Treibhausgasen bis 2030.
Deutschland will die Messlatte auf 50 bis 55 Prozent schrauben - was aber nicht alle mitmachen wollen. Vor allem Kohleländer wie Polen oder Tschechien befürchten, durch zu harte Umweltauflagen wirtschaftlich abgehängt zu werden. Umstritten sind auch andere Projekte. Etwa die Strategie "Vom Hof auf den Tisch" für mehr nachhaltige Lebensmittel. Oder der Plan zum Schutz der Artenvielfalt.
Gespräche über Brexit sind festgefahren
Und dann ist da noch der Brexit. Ausgetreten sind die Briten ja schon am 31. Januar diesen Jahres. Und seitdem wird über ein Partnerschaftsabkommen für die Zukunft verhandelt. Wobei man dazu sagen muss, dass die Gespräche ziemlich festgefahren sind. Was nach Ansicht der Briten natürlich an der störrischen EU liegt, die viel zu viel verlangt. In Brüssel heißt es - genauso natürlich -, dass Premier Boris Johnson auf der Bremse steht und sich eigentlich nur die Rosinen aus dem Kuchen herauspicken will.
Die Liste der Streitpunkte ist lang, vom Fischfang über den Handel bis zu den Rechten der EU-Bürger in Großbritannien und andersrum. Die Zeit für Verhandlungen wird knapp. Denn Ende des Jahres läuft die Übergangsfrist ab, in der sich zunächst nichts ändert. Danach droht der wirtschaftliche Chaos-Brexit, wenn keine Einigung zustande kommt. Viele in Brüssel hoffen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft mit der erfahrenen Verhandlerin Angela Merkel an der Spitze die Brexit-Gespräche aus der Sackgasse holt und die Briten doch noch zur Vernunft bringt.
Zeitumstellung ist eine "heiße Kartoffel"
Und das Ende der Zeitumstellung bleibt ein Thema. Eine Aufgabe, eigentlich wie für die deutsche Ratspräsidentschaft gemacht. Denn schließlich hatten sich bei der legendären europaweiten Online-Umfrage vor zweieinhalb Jahren vor allem Zeitumstellungskritiker aus Deutschland beteiligt und das Aus für den Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit verlangt." Die Bürger wollen das, wir machen das!", hieß es danach bei der EU-Kommission. Auch das Europaparlament will die Zeitumstellung abschaffen, am liebsten schon im nächsten Jahr.
Allerdings sind sich die Mitgliedsstaaten der EU nicht einig. Soll dauerhaft Sommerzeit oder Normalzeit gelten - oder alles so bleiben, wie es ist? Und wie lässt sich ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Zeitzonen in Europa verhindern? Die Ratspräsidentschaften aus Österreich, Rumänien, Finnland und Kroatien haben das heikle Thema wie eine heiße Kartoffel weitergereicht.
Und auch Berlin scheint keine große Lust zu haben, sich darum zu kümmern. In den Plänen des zuständigen Bundesverkehrsministers Andi Scheuer taucht das Ende der Zeitumstellung jedenfalls gar nicht erst auf. Vielleicht hat Europa aber gerade auch ganz andere Sorgen.