Desinformation in Deutschland Wie die Angst vorm Krieg instrumentalisiert wird
Immer wieder wird behauptet, dass Deutschland bald zur Kriegspartei werde. Der neue Vorwurf: Die Regierung plane das, um Wahlen zu verhindern und so an der Macht zu bleiben. Doch hinter der Panikmache stecken prorussische Interessen.
Diesmal ging die Debatte mit einem Screenshot der Stadt Hildesheim los. Auf deren offizieller Seite stand: "Die Bundestagswahl zum 21. Deutschen Bundestag wird - vorbehaltlich der Auflösung des Bundestages nach Artikel 68 und vorbehaltlich der Verlängerung der Wahlperiode im Verteidigungsfall nach Artikel 115 h des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland - voraussichtlich im Herbst 2025 stattfinden."
Die Debatte entbrannte an dem Einschub "vorbehaltlich der Verlängerung der Wahlperiode im Verteidigungsfall": Ein X-User kommentierte: "Wann wurde das in den letzten Jahrzehnten so offen kommuniziert? Die Entwicklungen lassen nichts Gutes erahnen." In einem Artikel des rechtsextremen Magazins Compact heißt es: "Die Bundesregierung stimmt die Deutschen auf Krieg ein - und auf die Abschaffung der Demokratie" - auch hier nennt der Autor als Beleg den Eintrag auf der Internetpräsenz der Stadt Hildesheim. Auch in verschiedenen reichweitenstarken Kanälen auf Telegram und auf TikTok wurde die These verbreitet.
Eintrag zum Wahltermin der nächsten Bundestagswahl: Diese Formulierung stand so bis zum 17. Juni 2024 auf der Seite der Stadt Hildesheim.
Kein neuer Eintrag
Doch die Formulierung auf der Seite hildesheim.de ist kein neuer Eintrag, sie stand da bereits vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine. "Die betreffende Ankündigung ist bereits Ende 2021 mit dem Relaunch des Internetauftritts online veröffentlicht worden und seitdem ohne jegliche Beanstandung geblieben", stellt Helge Miethe, Pressesprecher der Stadt Hildesheim, klar. Bis es nun zu den Unterstellungen kam. Auch eine Suche der Seite auf Wayback Machine, einem Internetportal, das ältere Versionen von Webseiten zur Verfügung stellt, zeigt, dass der Eintrag so bereits vor zwei Jahren auf der Seite stand.
Frühere Ankündigungen von Bundestagswahlen seien nicht so abgefasst gewesen, erklärt Miethe. "Mit dem Relaunch des Internetauftritts waren in kurzer Zeit viele Seiten neu zu füllen, so auch diese. Offensichtlich wollte man an dieser Stelle schlicht über alle grundgesetzlich geregelten Eventualitäten umfassend informieren, ohne vorherzusehen, dass dies Jahre später von Verschwörungstheoretikern missbraucht werden könnte."
Das Grundgesetz schreibt nämlich genau vor, in welchen Fällen eine Bundestagswahl verschoben werden kann, die eigentlich rechtmäßig nach vier Jahren ansteht. "Eine Verlängerung (...) sieht das Grundgesetz nur im Verteidigungsfall gemäß dem Art. 115a GG vor. Nach Art. 115h GG endet eine während des Verteidigungsfalles ablaufende Wahlperiode des Bundestages sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles", erläutert das Büro der Bundeswahlleiterin dem ARD-Faktenfinder.
"Keinerlei Bezug mehr zur Realität"
Warum gibt es dann diese Behauptungen in den sozialen Netzwerken? "Inhaltlich passt das Schüren von Kriegsangst im Kontext des russischen Kriegs gegen die Ukraine zu prorussischen Interessen und Narrativen. Da geht es schon länger um die Diskreditierung von Unterstützungsleistungen für die von Russland angegriffene Ukraine", sagt Lea Frühwirth, Senior Researcher Desinformation vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS).
Für Professor Joachim Behnke, Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen, ist die "Vorstellung, dass die Bundesregierung beabsichtigen würde, den Verteidigungsfall auszurufen, um die für sie vermutlich unerfreulich ausgehende nächste Bundestagswahl zu verhindern, völlig absurd und hanebüchen". Die Annahme, "dass so etwas von der Bundesregierung im Alleingang beschlossen werden könnte, ohne dass das Parlament oder das Verfassungsgericht einschreiten würden, ist völlig haltlos".
Der Spielraum für die Ansetzung des Zeitpunkts der nächsten Wahlen sei durch das Grundgesetz klar umrissen und könne nicht beliebig ignoriert werden. "Das sind Verschwörungstheorien, die der Regierung unterstellen, dass sie wirklich bereit ist, im wörtlichen Sinne alles zu tun, um sich an der Macht zu halten. Solche Theorien haben keinerlei Bezug mehr zur Realität und finden in einer Parallelwelt statt, in der Evidenz und Fakten jegliche Bedeutung verloren haben."
Wiederholte Kriegstreiber-Vorwürfe
Es ist nicht das erste Mal, dass im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Netz behauptet wird, dass die deutsche Regierung bald in einen Krieg eintreten will beziehungsweise den Verteidigungsfall ausrufen wird.
Als im März 2024 die sogenannte Taurus-Affäre bekannt wurde, gab es Behauptungen, das geleakte Gespräch sei ein Beweis für direkte Kriegspläne Deutschlands. Dass die Bundesregierung Anfang Juni der Ukraine den Einsatz deutscher Waffen gegen Ziele in Russland erlaubte, habe die Thematik weiter angefacht.
Frühwirth: "Die Entscheidung der USA und Deutschlands, dass die Ukraine die gelieferten Waffen auch gegen Ziele auf russischem Gebiet einsetzen dürfe, zog in prorussischen Kanälen dramatische Behauptungen zu einer drohenden Kriegsbeteiligung nach sich."
Im März warfen die AfD und andere Stimmen Gesundheitsminister Karl Lauterbach Panikmache und Kriegstreiberei vor. Er hatte gesagt, dass er das Gesundheitssystem per Gesetz auch für einen "militärischen Bündnisfall" wappnen will.
Anfang Juni wurden auf TikTok Militärübungen in der Schweiz mit einem deutschen Kriegseintritt in Verbindung gebracht. Fälschlicherweise wurde behauptet, dass die Autobahn A1 ab Juni für Kampfjet-Landungen gesperrt werde. Doch die Militärübung fand weder in Deutschland statt, noch war die Bundeswehr beteiligt, stellte "Correctiv" in einem Faktencheck klar.
Irreführender Kettenbrief
Ein weiteres Beispiel ist ein Kettenbrief, der derzeit unter anderem in verschiedenen reichweitenstarken Kanälen auf Telegram verbreitet wird. Er richtet sich an "Eltern von Teenager-Jungs" und fordert dazu auf, den Hauptwohnsitz von Jungen ab 14 Jahren "möglichst zügig" ins Ausland umzumelden. Bald könne es zu einem Katastrophenfall kommen und dann dürfe niemand aus dieser Zielgruppe mehr Deutschland verlassen. Auch hier wird impliziert, dass Deutschland kurz vor einem Kriegseintritt stehe.
Eine Sprecherin des Bundesverteidigungsministeriums erklärte auf Anfrage des ARD-Faktenfinders: "Der Kettenbrief beruht auf unzutreffenden Tatsachen, die zur Herleitung einer besonderen familiären Betroffenheit missbraucht werden. Aus hiesiger Bewertung ist der zitierte Kettenbrief als Form der gezielten Desinformation oder des politischen Aktivismus einzuordnen." In Deutschland sei die Wehrpflicht gesetzlich geregelt. Laut dem sogenannten Wehrpflichtgesetz (WPflG) sind grundsätzlich erst Männer ab 18 Jahren wehrpflichtig und außerdem "ruht die Wehrpflicht nicht allein aufgrund einer Ummeldung ins Ausland", beruft sich die Sprecherin auf Artikel 1 WPflG.
Debatte zum Krieg soll beeinflusst werden
Rhetorik rund um Krieg und Frieden werde schon länger eingesetzt, um die Debatte zum Krieg in der Ukraine zu beeinflussen, stellt Frühwirth von CeMAS klar: "Prorussische Stimmen werfen dem Westen etwa Kriegstreiberei vor, obwohl der Krieg von Russland ausgeht." Aus den wiederholten Unterstellungen einer vermeintlich drohenden direkten Kriegsbeteiligung Deutschlands lasse sich herauslesen: "Hört auf, die Ukraine zu unterstützen, sonst wird es gefährlich für euch. Eine Drohkulisse zur Einflussnahme." Sie macht außerdem klar: "Prorussisch eingestellte Parteien werden - im selben Framing von Krieg und Frieden bleibend - mitunter wohlwollend als Friedensparteien bezeichnet."
Die Stadt Hildesheim hat ihren Eintrag übrigens inzwischen geändert. Die Formulierung lautet nun schlicht: "Die Wahl der Abgeordneten zum 21. Deutschen Bundestag wird voraussichtlich im Herbst 2025 stattfinden."