Ein Luftbild zeigt die Trümmer im Stadtzentrum von Hatay, Türkei.
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Desinformation zu Erdbeben Verschwörungsmythen und falsche Videos

Stand: 09.02.2023 11:26 Uhr

Nach dem Erdbeben kursieren in den Sozialen Netzwerken einige Falschmeldungen. So stammt das Video einer angeblichen Explosion eines türkischen Kernkraftwerks in Wahrheit aus dem Libanon. Auch andere Mythen sind im Umlauf.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Erdbeben in der Türkei - Hier soll angeblich ein Kernkraftwerk explodiert sein", heißt es in einem Post auf Twitter. Darunter zu sehen ist ein kurzes Video einer massiven Explosion, riesige Rauchwolken steigen in die Luft. Doch das Video ist alt.

Mithilfe der Bilderrückwärtssuche lässt sich ziemlich schnell feststellen, dass das Video bereits sehr häufig hochgeladen wurde, erstmals am 4. August 2020. Zudem handelt es sich bei der Explosion weder um ein Kernkraftwerk, noch ist der Explosionsort die Türkei. Das Video wurde in Beirut aufgenommen, der Hauptstadt des Libanon. Dort waren am 4. August 2020 Hunderte Tonnen Ammoniumnitrat in der Nähe des Hafens explodiert, mehr als 200 Menschen starben.

Das Video der massiven Explosion in Beirut taucht in den Sozialen Netzwerken immer mal wieder im falschen Zusammenhang auf, unter anderem auch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So wurde das Video zu Beginn der russischen Invasion als vermeintlicher Luftangriff auf Kiew dargestellt.

USA sollen hinter Erdbeben stecken

Das Video ist nicht die einzige Desinformation, die nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien verbreitet wurde. In verschwörungsideologischen Kreisen wurde bereits kurz nach dem Erdbeben spekuliert, dass es sich angeblich gar nicht um ein "normales Erdbeben" gehandelt habe. Vielmehr soll es eine "Bestrafungsaktion" gegen die Türkei gewesen sein, initiiert von der NATO oder den USA.

Grund für die angebliche Bestrafung der Türkei soll deren Haltung bei den Russland-Sanktionen sein. Als vermeintlicher Beweis für diesen Verschwörungsmythos wird unter anderem angeführt, dass viele europäische Länder und auch die USA ihre Konsulate in Istanbul vorübergehend geschlossen hatten. Der wahre Grund hierfür war jedoch die Befürchtung eines erhöhten Anschlagsrisikos in der Stadt.

Als weiteren Beweis führen die Verschwörungsideologen die Spannungen zwischen der Türkei und den USA an: Wenige Tage vor dem Erdbeben hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den USA gedroht, sich neue Bündnispartner zu suchen, sollten die USA keine Kampfjets an die Türkei liefern. Der Streit um die Kampfjets zieht sich bereits seit Monaten hin.

"Dinge zueinander in Bezug zu setzen und einen kausalen Zusammenhang zu behaupten, ist ein typisches Muster im verschwörungsideologischen Milieu", sagt Lea Frühwirth, Senior Researcher beim CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie). Alle Ereignisse würden durch die Brille der Verschwörungserzählungen gesehen und in Bezug zu diesen eingeordnet werden. "Dinge können zeitgleich oder nacheinander auftreten, ohne etwas miteinander zu tun zu haben. Dennoch ist es nicht allzu schwer, sie mit der richtigen Erzählweise und der richtigen Auswahl wie eine schlüssige Abfolge wirken zu lassen. Eine Kausalität beweist das noch lange nicht."

Verschwörungsmythos um HAARP-Anlage

Wie die USA überhaupt ein so starkes Erdbeben ausgelöst haben sollen, meinen die Verschwörungsideologen auch beantworten zu können - mit dem High Frequency Active Auroral Research Program (HAARP) (auf deutsch: Forschungsprogramm zur hochfrequenten Sonnenaktivität). Das HAARP ist ein Forschungsprogramm der Universität Alaska in den USA, das es schon seit Jahrzehnten gibt. Ziel dabei ist es, die obere Atmosphäre - die Ionosphäre - und auch die Ausbreitung von Funkwellen zu erforschen. Dafür werden Radiowellen eingesetzt.

Für Verschwörungsideologen ist HAARP hingegen für Wettermanipulationen sowie die Herbeiführung von Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche verantwortlich, sagt Frühwirth. "Dahinter steckt die allgemeine Tendenz des verschwörungsideologischen Milieus, hinter jedem Großereignis einen bösartigen, geheimen Plan einer mächtigen Verschwörung zu vermuten."

Dabei ist es laut Oliver Heidbach, Leiter der Arbeitsgruppe Analyse und Modellierung tektonischer Spannungen am Deutschen GeoForschungsZentrum (GFZ), gar nicht möglich, mit Radiowellen Erdbeben auszulösen. "Radiowellen können mit den hohen Frequenzen im Mega- und Gigahertzbereich in der Erdkruste keine Bewegung des Gesteins erzeugen und somit auch keine Spannungsänderungen hervorrufen." Der Auslöser von Erdbeben wie das in der Türkei und Syrien sei vielmehr das Überschreiten einer kritischen mechanischen Spannung in der Erdkruste.

Auch Yuri Shprits, Leiter der Sektion Weltraumphysik und Weltraumwetter am GFZ, ist "fest davon überzeugt, dass durch HAARP erzeugte Modifikationen der Ionosphäre keine Erdbeben verursachen können". Zudem würde das Auslösen eines Erdbebens gigantische Energiemengen erfordern, die von HAARP nicht erzeugt werden könnten. "Außerdem wäre es unmöglich, die Energie aus der Ionosphäre an verschiedene Orte auf der Erde zu übertragen."

Mythos taucht oft nach Naturkatastrophen auf

In den Sozialen Netzwerken kursiert dennoch ein Video, das vermeintlich Beweisen soll, dass HAARP hinter dem Erdbeben steckt. Grund seien Blitze, die auf dem Video zu sehen seien, die "bei Erdbeben nicht normal" seien. Doch auch dieses Video ist nicht aktuell - es entstand während eines Erdbebens im Westen der Türkei am 23. November 2022. Zudem kommt es entgegen der Behauptung durchaus vor, dass während Erdbeben Blitze zu sehen sind, zum Beispiel durch Kurzschlüsse von zerstörten Stromleitungen.

Die Theorie zu HAARP zählt laut der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zu den bekanntesten Verschwörungserzählungen und wird immer wieder nach Naturkatastrophen verbreitet - so auch nach der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Juli 2021. "Verschwörungsideolog:innen, die an die vermeintliche Waffe 'HAARP' glauben, nehmen solche ins Narrativ passende Ereignisse zum Anlass, diesen Verschwörungsmythos zu verbreiten", sagt Frühwirth. Durch diese Verknüpfung mit aktuellen Reizthemen würden weitere Menschen von diesem Weltbild erfahren und sich vielleicht sogar anschließen.

Prorussische Propaganda

Auch prorussische Propagandisten nutzen das Erdbeben, um ihr eigenes Narrativ zu verbreiten. So wird in prorussischen Kanälen ein Video geteilt, in dem der als türkischer Journalist betitelte Cem Kiran sagt, dass Russland helfen würde, die NATO hingegen nicht - und das, obwohl ein NATO-Stützpunkt selbst betroffen sei. "Es gibt US-Soldaten, aber sie helfen nicht", wird Kiran zitiert. Russland habe hingegen bereits drei Flugzeuge des Katastrophenschutzministeriums geschickt. Wie bei einem Erdbeben in 1999 in Izmit seien Flugzeuge aus Russland die ersten, die in Istanbul eingetroffen seien.

Dabei haben sowohl die USA als auch viele weitere NATO-Staaten bereits Rettungsteams in die Türkei entsandt. Noch am Montag hatte US-Präsident Joe Biden mitgeteilt, dass sich erste Rettungsteams bereits auf den Weg machten, um die Rettungs- und Bergungsarbeiten in dem Erdbebengebiet zu unterstützen und den Menschen vor Ort zu helfen. Man stimme sich eng mit den türkischen Behörden ab, um jegliche benötigte Hilfe zur Verfügung zu stellen, sagte Biden.

Was in den einschlägigen Telegramkanälen ebenfalls nicht erwähnt wird, ist, dass es sich bei Cem Kiran selbst um einen prorussischen Akteur handelt. Mit seinem Blog und seinen Kanälen wolle er "die missverstandene Wahrnehmung Russlands in der Türkei durchbrechen als auch für dieses Land werben", heißt es auf seiner Webseite. In seinen Videos verbreitet er unter anderem russische Propaganda zum Krieg in der Ukraine.

Auch ein "RT DE"-Redakteur verbreitete die Behauptung, Russland würde Rettungskräfte schicken, Deutschland nur warme Worte. Dabei hatte das Auswärtige Amt schon am Dienstag mitgeteilt, dass die Hilfe aus Deutschland angelaufen sei. Unter anderem ein Such- und Rettungsteam sei demnach bereits in der Türkei gelandet, auch das THW und die Bundespolizei würden helfen.

Weitere Bilder und Videos mit falschem Kontext

Es kursieren im Internet noch viele weitere Bilder und Videos mit falscher Zuschreibung, wie das Faktencheckteam der Nachrichtenagentur AFP berichtet. So soll zum Beispiel ein oft geteiltes Video eine Art "Tsunami" zeigen, den das Erdbeben an der türkischen Südküste ausgelöst haben soll. Tatsächlich ist in dem Video jedoch ein Sturm in der südafrikanischen Stadt Durban im Jahr 2017 zu sehen. 

Ein ähnlich dramatisches Video, in dem Wellen auf eine Küstenlinie krachen, stammt ebenfalls nicht aus der Türkei, wie in Online-Netzwerken behauptet wird, sondern von einem kalifornischen Sturm in San Diego im Januar. Andere Videos zeigen bebende Erde und wackelnde Gebäude - das Material wurde jedoch bei früheren Erdbeben wie dem in Japan 2011 gefilmt. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten am 09. Februar 2023 die tagesschau ab 09:00 Uhr und tagesschau24 ab 09:05 Uhr.