Jahrestag der Beirut-Explosion "Sie decken sich gegenseitig"
Bis heute liegen die Hintergründe der Explosionskatastrophe von Beirut vom 4. August 2020 im Dunkeln: Ein erster Untersuchungsrichter wurde geschasst, Politiker verweigern die Aussage. Ein Enthüllungsjournalist geht auf Spurensuche.
Drei Wochen vor der Explosion erreicht ein brisantes Schreiben das Büro des Präsidenten und des Premierministers. Darin warnen die Sicherheitsbehörden vor "immensen Gefahren", ja einer "Katastrophe". Sie hatten den Hafen Ende 2019 inspiziert und in einer maroden Halle Löcher entdeckt. Darin lagerten nicht nur Tausende Autoreifen, Feuerwerkskörper und Kerosin, sondern auch schätzungsweise 2700 Tonnen Ammoniumnitrat - eine hochexplosive Chemikalie.
Präsident Michel Aoun lässt das Schreiben an das Transportministerium weiterleiten, wo es am 4. August ankommt. Der damalige Premierminister Hassan Diab will am selben Tag eine Untersuchung in Auftrag gegeben haben. Beides wird die Katastrophe am Abend nicht verhindern, die mehr als 200 Menschen in den Tod reißt und ganze Stadtviertel verwüstet. Das jedenfalls zeigen Dokumente und Aussagen, die Riad Kobeissi vorliegen.
Der wohl bekannteste Enthüllungsjournalist des Libanon hat die Geschichte des Ammoniumnitrats über Jahre verfolgt, am Hafen recherchiert, mit Zeugen gesprochen und Unterlagen geprüft. Er kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: "Letztlich sind Schlamperei und Korruption dafür verantwortlich, dass dieses Ammoniumnitrat sechs Jahre lang im Hafen gelagert wurde."
Blockadehaltung bei den Untersuchungen
Auch ein Jahr nach der größten nicht-nuklearen Explosionen in der Geschichte der Menschheit sind die Fragen unbeantwortet, wer der Eigentümer der hochexplosiven Chemikalie war und was genau sie entzündete. Der Zollchef, der Chef der Staatssicherheit, der Hafendirektor - sie alle wurden verhaftet, zudem 25 niedere und mittlere Beamte. 18 sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Allerdings keiner der Entscheidungsträger an der Spitze von Staat und Regierung.
Im Februar wurde Ermittlungsrichter Fadi Sawan geschasst. Zuvor hatte er Anklage gegen Ministerpräsident Diab und drei frühere Minister erhoben. Auch sein Nachfolger kommt nur schleppend voran. Innenminister Mohamed Fehmi verweigerte eine Befragung, Abgeordnete nehmen ihre Immunität in Anspruch. "Das macht mich wütend", meint der Starreporter. "Sie decken sich alle gegenseitig, wollen nicht aufklären, genießen Immunität."
Der Chef der Anwaltskammer, Melhem Kalaf, hält die Blockadehaltung vieler Politiker für skandalös: "Es gibt die Absicht, den Untersuchungsprozess zu verhindern. Gesetze werden auf besondere Weise ausgelegt. Man versucht, der Justiz Befugnisse zu entziehen und das Verfahren zu stören."
Steckt die Hisbollah hinter der Lieferung?
Aufzuklären allerdings gäbe es einiges. 2013 läuft der Frachter "Rhosus" im Hafen von Beirut ein - ein marodes Schiff unter moldauischer Flagge mit dem Ziel Mosambik und brisanter Ladung: 2700 Tonnen Ammoniumnitrat. Wegen schwerer Mängel untersagen die Behörden die Weiterfahrt und beschlagnahmen die Chemikalie. Sie wird in Halle 12 am Hafen eingelagert.
Ein Rechtsverstoß, der viele Fragen aufwirft, meint Kobeissi im ARD-Interview. Man könne davon ausgehen, dass Waffen- und Drogenschmuggler den Hafen heimlich als Umschlagplatz nutzten. Dort aber Tonnen von Sprengstoff für mehr als sechs Jahre zu lagern, sei geradezu absurd. Womöglich stecke doch ein Masterplan dahinter, spekuliert der umtriebige Journalist. Bestellt wurde die Ladung von einer Briefkastenfirma mit Sitz in London. An derselben Adresse residieren auch syrische Geschäftsleute - eine Spur, die nach Damaskus weist.
Syriens Machthaber Assad war 2013 durch den Bürgerkrieg in schwerer Bedrängnis. Er setzte international geächtete Fassbomben gegen die Aufständischen ein. Ammoniumnitrat hätte er für deren Bau wohl gut gebrauchen können. Die Hisbollah ist einer der wichtigsten Bündnispartner Assads. Im Hafen von Beirut zieht die schiitische Miliz ebenso die Fäden wie im ganzen Land. Wollte sie den Sprengstoff nach Syrien liefern, scheiterte aber am Wirrwar von Zuständigkeiten am Hafen? Eine spannende Hypothese, für die es freilich keine Beweise gibt. Ob sie je gefunden werden können, ist fraglich.
Hafen als "Mikrokosmos"
Der Chef der Anwaltskammer, Kalaf, will nicht lockerlassen, bis die Untersuchung auch Ergebnisse zu Tage fördert. Die Zukunft des Libanon hänge davon ab: "Entweder Gerechtigkeit oder Zerfall. Entweder Gerechtigkeit oder Willkür. Entweder Gerechtigkeit oder Hoffnungslosigkeit."
Riad Kobeissi sieht den Staat trotz des Niedergangs im Libanon noch immer fest im Griff gieriger Cliquen. Der Hafen sei ein Sinnbild dafür. Alle mächtigen Gruppierungen griffen nach ihrem Anteil und verteilten sie an ihre Gefolgsleute. Verantwortlich aber sei am Ende niemand. Die Explosion sei deshalb ein Sinnbild der Korruption im ganzen Land. "Manche wussten von dem Ammoniumnitratm, als sich die Ladung noch auf dem Schiff befand, Andere erst als sie im Hafen eingelagert war. Keiner regte einen Finger, obwohl sie alle in der Lage waren, etwas zu unternehmen."
Kobeissi will weiter im Korruptionssumpf seiner Heimat wühlen, auch wenn ihm das schon einige Todesdrohungen eingebracht habe. Der 40-jährige Familienvater nimmt es gelassen: "Ich gebe zu, dass mir solche Drohungen schon Sorgen machen, aber sie haben auch Angst vor meinen Reportagen."