Erdbeben in Türkei und Syrien "Platten sind noch nicht zur Ruhe gekommen"
Im Süden der Türkei treffen die Anatolische und die Arabische Platte aufeinander. Im Interview erklärt die Geophysikerin Krawczyk, wie solch heftige Erdbeben entstehen und warum sie so schwer vorherzusagen sind.
tagesschau.de: Was genau ist im Süden der Türkei passiert?
Charlotte Krawczyk: Wir haben dort zwei Platten, die sich horizontal aneinander vorbeibewegen, die Anatolische und die Arabische Platte. Das machen die schon lange und auch ganz regelmäßig, ungefähr mit zwei Zentimetern pro Jahr.
Es kommt dann zu so starken Erdbeben, wenn ein Teil dieser Bewegung nicht direkt in Bewegung umgesetzt und abgebaut wird, sondern wenn sich die Platten etwa verhaken und dadurch Spannung aufgebaut wird. Irgendwann wird dann ein Schwellwert erreicht und wenn der überschritten ist, kommt es zu dem großen Ereignis, wo sich dann die aufgestaute Spannung entlädt.
Lange (zu) ruhig
tagesschau.de: Es war in den letzten Jahren relativ ruhig an genau dieser Schnittstelle. Was ist aktuell passiert?
Krawczyk: Um genau zu sein war es dort sogar fast 900 Jahre ruhig - und wissenschaftlich gesehen für die Geodynamik zu ruhig. Dort ist lange nichts passiert. Das ist ein Bereich, wo immer wieder viele kleine Erdbeben auftreten. Und letzte Nacht hat das ganze wahrscheinlich einen Trigger erfahren und ist dann eskaliert. Wir haben nach dem großen Ereignis viele Nachbeben messen können, auch mit großen Magnituden von vier bis fünf.
Später kam dann wieder ein Ereignis mit einer Magnitude von etwa 7,4 - das heißt, dort sind die Platten noch nicht zur Ruhe gekommen. Wir können aber nicht sagen, wann das passiert oder warum es so passiert ist. Wir haben keine Vorläuferphänomene in diesem Fall beobachten können.
Im türkisch-syrischen Grenzgebiet kam es zu zahlreichen Beben. Das Hauptereignis fand in 10 Kilometern Tiefe statt.
Weltweit Sensoren
tagesschau.de: Wie können Sie denn überhaupt messen, was da unten passiert?
Krawczyk: Die Magnituden und Auswertungen ist das, was das GEOFON-Netzwerk im Geoforschungszentrum in Potsdam weltweit täglich misst und online jederzeit verfügbar macht. Wir haben einen internationalen Erdbebenkatalog und viele Sensoren, die weltweit aufgestellt sind und uns ständig Daten liefern. Wenn es zu einem großen Ereignis kommt, kann es lokalisiert werden.
Und dann schauen wir uns das Signal nicht nur automatisch detektiert an, sondern es wird auch händisch noch mal nachgearbeitet. Um ganz sicher zu sein: Wo ist die Lokation und vor allem in welcher Tiefe hat das Ereignis wahrscheinlich stattgefunden? In diesem Fall von vergangener Nacht ist die Tiefe mit zehn bis 15 Kilometern unterhalb der Erdoberfläche anzugeben.
Je weniger tief, desto heftiger
tagesschau.de: Was für Auswirkungen hat die Tiefe auf die Heftigkeit des Erdbebens?
Krawczyk: Je flacher und je dichter es unter der Erdoberfläche ist, je näher es an unseren Füßen stattfindet, umso schneller ist es natürlich bei uns, und umso mehr von dieser aufgestauten Energie wird dann auch in zerstörerische Energie umgesetzt, so dass zum Beispiel Gebäude einstürzen, Infrastrukturen zerstört werden oder ähnliches. Hätte ein Erdbeben der Stärke 7,7 in beispielsweise 50 bis 100 Kilometern Tiefe unterhalb der Erdoberfläche stattgefunden, hätten wir die Auswirkungen auch gespürt, aber lange nicht so heftig.
In diesem Fall kommt auch hinzu: Die Platten schieben sich horizontal aneinander vorbei. Wir sind nicht zu weit weg von der Erdoberfläche und dadurch wird dann auch die Erdoberfläche in Schwingung versetzt, was dann zu diesen Schadensfällen führt.
Risse und Schwingungen
tagesschau.de: Wie muss man sich diese Schwingungen vorstellen?
Krawczyk: Es gibt einen großen Riss, das heißt, es wird das, was wir so als unsere feste Erde beschreiben, über eine große Länge aufgerissen. Wenn ich etwas aufreiße, dann muss ich es natürlich auch irgendwo hin bewegen. Das heißt, zum einen habe ich die Ausbreitung des Risses selber. Zum anderen aber wird dort unten auch das Gestein sozusagen gerissen und dadurch in Bewegung versetzt. Dadurch beginnt der Erdkörper zusätzlich zu schwingen.
Und diese seismischen Wellen breiten sich durch den Erdkörper aus, und deswegen können wir sie zum Beispiel hier in Potsdam überhaupt messen. Wenn sich diese Energie nicht ausbreiten würde, dann wüssten wir gar nicht, dass es dieses Erdbeben gegeben hat. Das heißt der Erdkörper gerät in Schwingung. Wir können all das weltweit messen. Und um vielleicht ein Beispiel zu geben, was mit diesem Erdbeben war: Es ist um Ortszeit 1:15 Uhr nachts passiert. Fünf Minuten später war die Ausbreitung von dieser Erdbebenwelle in Potsdam. Und in Potsdam hat sich nach fünf Minuten aufgrund dieses starken Erdbebens die Erdoberfläche um drei Millimeter gehoben.
tagesschau.de: Diese drei Millimeter haben wir aber hier nicht mehr wirklich spürbar mitbekommen, oder?
Krawczyk: Nein, das merken wir nicht. Vor allen Dingen macht es immer einen riesigen Unterschied: Geht es ganz abrupt und schnell oder läuft es einfach als langwelliges Ereignis so unter uns durch und wir merken das gar nicht? Und das ist so ein Phänomen, weil wir etwa 2000 bis 3000 Kilometer vom Ort des Geschehens weg sind.
Viel Forschung zu Erdbebenvorhersage
tagesschau.de: Ist es überhaupt möglich, Erdbeben vorher feststellen zu können? Mit Messinstrumenten?
Krawczyk: Wir träumen ja alle davon und forschen heftig daran, irgendwann mal die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben besser angeben zu können. Das hilft uns dabei, zum Beispiel Forschung in Frühwarnsysteme zu investieren, um Vorläuferphänomene überhaupt kennenzulernen. Was man immer machen muss, ist, dass man für eine bestimmte Region diese Vorläuferphänomene über längere Zeit studiert, um daraus abzuleiten, was dort besonders ist und wie sich dort ein Erdbeben ausbreiten würde.
tagesschau.de: Was sind das für Vorläuferkriterien, die es da geben kann?
Krawczyk: Es mag Bereiche geben, wo zum Beispiel eine seismische Krise auftritt und wir so etwas hätten wie ganz viele kleine Erdbeben. Die sammeln sich zeitlich, werden immer häufiger und man kann sie beobachten. Das könnte zum Beispiel darauf hinweisen, dass dort ein Ereignis im Gange ist, das vielleicht ein stärkeres Ereignis nach sich zieht.
Aber genau diese Art der Phänomene, also: Wann ist es wirklich ein Anzeiger für das Verhalten im Untergrund? Oder ist es nur das natürliche Verhalten? Das kann man nur dann wirklich messen und modellieren, um eine Vorhersage zu machen, wenn man das über lange Zeiträume beobachtet, um dann für einen Bereich auch spezifisch dieses Wissen aufzusammeln.
Messlücken schließen
tagesschau.de: Sie haben gesagt, der Traum der vielen Forscherinnen und Forscher könne wahr werden. Was muss dafür passieren?
Krawczyk: Ich glaube, was sich schon sehr entwickelt hat, ist, dass wir global und weltweit messen können. Wir haben aber in vielen Bereichen auch Messlücken. Es ist ja nicht so, dass wir alles schön und gleichmäßig abgedeckt haben, so wie jetzt in diesem Fall. In der Türkei gibt es viele auch regionale Netzwerke, die mitmessen und gar nicht in dieses globale System eingespeist werden müssen. Das ist insofern erst mal gut, um regional und auch wirklich landesbezogen diese Art der Überwachung zu machen.
Aber für unsere Messlücken, da brauchen wir noch was. Was zum Beispiel im Moment sehr stark an der Front der Forschung ist, ist, dass wir Glasfaserkabel als seismologische Sensoren benutzen. Wenn wir das auch über große Distanzen besser abfragen können, dann können wir viele Messlücken schließen. Und das hilft uns auch dabei zu beurteilen, ob ein Phänomen als kritisch, als Vorläufer oder normal eingestuft werden kann.
tagesschau.de: Hat es im Falle dieses Erdbeben irgendwelche Vorläufer gegeben, von denen sie sagen: Das könnte ein Anzeichen gewesen sein?
Krawczyk: Wir können das nicht beantworten. Vielleicht können die dichter dranstehenden Messinstrumente vor Ort irgendwann diese Frage beantworten. Im Moment ist vor Ort aber natürlich etwas ganz anderes im Vordergrund. Mit dem Netzwerk, das wir weltweit zur Verfügung haben, können wir diese Aussage so nicht treffen. Wir haben unsere Daten nichtsdestotrotz drauf untersucht, weil wir das natürlich auch gerne wissen möchten, haben aber keine Anzeichen dafür, dass es Vorläuferphänomene gab.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.