"Daumen-runter"-Geste Falsche Vorwürfe gegen Roth
Die Vizepräsidentin des Bundestags soll in der Moria-Debatte durch eine "Daumen-runter"-Geste ihre Neutralitätspflicht verletzt haben. Doch Claudia Roth bezog sich gar nicht auf die Rede von Innenminister Seehofer.
Von Patrick Gensing, Redaktion ARD-faktenfinder
"Claudia Roth ist ihres Amtes als Bundestagsvize unwürdig", twitterte der AfD-Funktionär Malte Kaufmann am Samstag. Dazu veröffentlichte er ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie Roth während der Rede von Bundesinnenminister Horst Seehofer in dessen Rücken mit ihrem rechten Daumen nach unten zeigt. Sie habe damit ihre Neutralitätspflicht verletzt und müsse dringend abgewählt werden, folgerte Kaufmann.
Zahlreiche Medien präsentierten das Bild mit einer ähnlichen Deutung. Der "Tagesspiegel" veröffentlichte das Foto der Geste und schrieb dazu: "Roth wirft Seehofer 'Totalversagen' bei Geflüchteten vor" und "zeigt das auch deutlich". Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb, Roth habe im Bundestag deutlich gemacht, dass sie vom Handeln des Ministers wenig halte. Sie habe hinter seinem Rücken "eine unmissverständliche Geste" gezeigt.
Interview nach der Debatte
Tatsächlich attackierte Roth den Innenminister scharf in einem Interview: "Die Ankündigung von Horst Seehofer, nur zwischen 100 und 150 Minderjährige aus Moria in Deutschland aufzunehmen, ist ein Totalversagen des Innenministers", so die Grünen-Politikerin - allerdings am Tag nach der Debatte im Bundestag.
Redezeit überzogen
Der Mitschnitt von der Rede Seehofers zeigt zwar, dass Roth tatsächlich eine "Daumen-runter"-Geste gezeigt hatte. Zu diesem Zeitpunkt sprach der CSU-Politiker allerdings davon, daran zu arbeiten, eine Lösung zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu finden. Es erscheint also nicht plausibel, warum die Grünen-Politikerin ausgerechnet dies mit einer negativen Geste bewertet haben solle. Vielmehr gestikulierte sie - während Seehofer diese Sätze um 12:44 Uhr sprach - in Richtung Plenarsaal.
Der Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion erklärte auf Twitter, Roth habe mit der Geste nicht kommentiert. Es sei ein Zeichen an CDU und CSU gewesen, dass die vom Minister überzogene Redezeit von der Redezeit der Unionsfraktion abgezogen werde. Dies erklärte Roth auch direkt im Anschluss, wie in einem Video zu sehen ist. Seehofer sprach mehrere Minuten länger als vorgesehen.
Entschuldigung von Kaufmann
Zwar lehnt Roth die Position von Seehofer in der Flüchtlingsfrage deutlich ab, allerdings hat sie dies nicht in ihrer Funktion als Bundestagsvize hinter seinem Rücken durch eine Geste ausgedrückt. Dieser Eindruck entsteht nur, wenn man das Bild ohne Kontext betrachtet und mit den Äußerungen Roths als Grünen-Politikerin kombiniert.
AfD-Politiker Kaufmann entschuldigte sich mittlerweile in einem weiteren Tweet für den Vorwurf gegen Roth. Die Interpretation der Bilder sei falsch gewesen, räumte er auf Twitter ein.
Gesten falsch interpretiert
Im November 2019 war der AfD-Politikerin Beatrix von Storch fälschlicherweise vorgeworfen worden, sie habe im Bundestag eine "Kopf-ab"-Geste gezeigt. Tatsächlich hatte sie auf eine Rede des damaligen SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs reagiert. "Rechtsextremisten, die stehen mir bis hier", sagte Kahrs - und hielt sich die Hand an den Hals. Als Reaktion auf diese Attacke zeigte die AfD-Abgeordnete eine ähnliche Geste.
Die SPD-Fraktion veröffentlichte knapp eine Stunde später auf Twitter die "absolut unwürdigen Szenen in den Reihen der AfD". Es handelte sich dabei um ein fünf Sekunden langes Video, auf dem lediglich die Geste von Storchs zu sehen war. Etwa eine halbe Stunde später twitterten die Sozialdemokraten dann ein längeres Video, auf dem auch die Geste von Kahrs gezeigt wurde.
Einen Monat zuvor hatte wiederum die AfD behauptet, bei einer Rede von Alice Weidel habe jemand in ihre Richtung eine solche "Kopf-ab"-Geste gezeigt. Tatsächlich handelte es sich aber um einen Sympathisanten der Partei, der einen Hustenanfall hatte und sich daher auf die Brust geklopft hatte.
Immer wieder Attacken auf Roth
Die Grünen-Politikerin Roth wird seit Jahren massiv attackiert. Ihr wurde vorgeworfen, ein Alkoholverbot in Deutschland während des islamischen Fastenmonats Ramadan zu fordern. Wegen eines falschen Zitats ging sie rechtlich gegen Erika Steinbach vor. Und weil sie sich im Bundestag während einer Rede kurz umgedreht hatte, wurden ihr sogar "Nazi-Methoden" unterstellt. Auch hier war ein Bild aus dem Bundestag ohne jeden Kontext verbreitet worden.