Menschen schwenken russische Fahnen, als Wladimir Putin die Bühne betritt, um eine Rede während eines patriotischen Konzerts zu halten.
Kontext

Russlands Krieg gegen die Ukraine Im Dunst der Desinformation

Stand: 24.02.2023 10:41 Uhr

Russland führt in der Ukraine nicht nur mit Raketen und Panzern Krieg, sondern auch mit Desinformation und Falschmeldungen. Den Aufmarsch vor dem Angriff hatte der Kreml als Manöver verkauft, die ukrainische Regierung diskreditiert er bis heute als Nazis.

Von Patrick Gensing für tagesschau.de

"Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit" - so lautet ein viel zitierter Ausspruch des US-Senatoren Hiram Johnson aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Im Fall des Angriffs Russlands auf die Ukraine war die Wahrheit allerdings bereits längst ausgeschaltet, als Putins Truppen am 24. Februar 2022 massenhaft in das Nachbarland einmarschierten.

Über die Staatssender im In- und Ausland, mithilfe von bezahlten Claqueuren und freiwilligen Unterstützern sowie durch Propaganda auf diplomatischer Ebene hat Russland die eigene Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft mit irreführenden Meldungen, falschen Behauptungen und purer Desinformation überzogen - bis heute.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnt, der Kreml habe eine mächtige Industrie zur Manipulation aufgebaut. Die Menschen sollten nicht mehr verstehen können, was tatsächlich passiere, so Borrell, damit die Schuldfrage nicht mehr geklärt werden könne.

"Für niemanden eine Bedrohung"

Tatsächlich sind viele Behauptungen der Propaganda leicht als irreführend oder falsch zu erkennen. Viele werden auch durch das tatsächliche Handeln Russlands widerlegt. So hatten in den Wochen vor dem Einmarsch die Ukraine westliche Geheimdienste und viele Fachleute vor dem bevorstehenden Angriff gewarnt. Die Indizien waren deutlich: Russland hatte Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen, dazu ein gemeinsames Manöver mit Belarus abgehalten - mit 30.000 russischen Soldaten.

Dass ein großangelegter Angriff bevorstehe, tat der Kreml als vermeintliche westliche Propaganda ab. Es sei Russlands Sache, wo man innerhalb der eigenen Grenzen Truppen einsetze. Berichte über Warnungen über einen bevorstehenden Angriff "schüren nur sinnlos und grundlos die Spannungen. Russland stellt für niemanden eine Bedrohung dar", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

In Deutschland war es unter anderem Sahra Wagenknecht, die in dem Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine keine russischen Pläne für einen Angriff erkennen wollte. So sagte die Linken-Politikerin wenige Tage vor dem Angriff in der ARD-Sendung "Anne Will", Russland habe "faktisch kein Interesse, in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich nicht." Vielmehr beklagte Wagenknecht die "Aggressivität, mit der von amerikanischer Seite ein Einmarsch geradezu herbeigeredet" werde.

Vorwände geschaffen

Die Erzählung, Russland werde quasi in einen Krieg getrieben, ist ein Paradebeispiel, wie die Schuld für einen Angriffskrieg abgewehrt und sogar umgedreht werden soll. Tatsächlich unterstützt Russland bereits seit 2014 Separatisten militärisch massiv, auch russische Soldaten ohne Hoheitszeichen waren bereits in der Ukraine im Einsatz, zudem annektierte Putin die Krim.

Systematisch hatte der Kreml Narrative aufgebaut, um Vorwände für einen Einmarsch zu schaffen und eine Täter-Opfer-Umkehr vorzubereiten. So war beispielsweise von einem angeblichen Genozid im Osten der Ukraine die Rede, Beweise dafür gibt es keine. Tatsächlich waren es dann russische Soldaten, die zahlreiche mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine verübten; Vorfälle, die noch juristisch aufgearbeitet werden sollen - auch wenn die Hürden dafür hoch sind.

Gefälschte Titelblätter

Bemerkenswert im Kontext solcher Äußerungen über die angebliche Aggressivität, mit der ein Einmarsch von US-amerikanischer Seite herbeigeredet werde, ist ein aktueller EU-Bericht von russischen Strategien zur Desinformation. Dafür hatten Fachleute eine Stichprobe von 100 Desinformationen russischer und chinesischer Herkunft im Internet aus dem Zeitraum von Oktober bis Dezember 2022 analysiert. Die Autorinnen und Autoren des Berichts dokumentierten Fälschungen von Titelblättern europäischer Magazine, die im Netz verbreitet wurden - unter anderem der "Titanic", des französischen Satiremagazins "Charlie Hebdo" und des spanischen "El Jueves".

Ein Ziel der Desinformationen sei es, Zweifel daran zu säen, wer der Aggressor im Ukraine-Krieg ist, heißt es in dem Bericht. Russland werde, so lautet die Botschaft, vom Westen bedroht und umzingelt.

"Endlösung der Russenfrage"

Dieses Schreckensszenario treibt der Kreml immer weiter voran, die Rhetorik wird immer radikaler, so dass Außenminister Sergej Lawrow zuletzt sogar von einer "Endlösung der Russenfrage" sprach, die vorbereitet werde. Kein sprachlicher Ausrutscher, sondern Teil der großen Erzählung, Russland müsse die Ukraine "entnazifizieren". Auch in Deutschland taucht diese Behauptung seit Jahren auf. So hatte der rechtsradikale Publizist Jürgen Elsässer bereits im Jahr 2014 auf einer "Montagsdemo" in Berlin von einem "NATO-Faschismus" gesprochen und gewarnt, in der Ukraine werde die "Endlösung der Russenfrage" vorbereitet.

Dass Putin bei vielen Rechtsaußen weltweit als eine Art Schutzpatron gegen westliche Werte gefeiert wird, dass der Präsident der Ukraine Jude ist, dass bei russischen Angriffen auf die Ukraine auch Überlebende des Holocausts getötet wurden - all das passt nicht in die Erzählung von der "Nazi-Ukraine", die vom Faschismus befreit werden müsste. Daher werden beispielsweise gefälschte Bilder verbreitet, die Selenskyj mit einem Trikot samt Hakenkreuz zeigen. Eine plumpe Fälschung.

Ebenfalls manipuliert war ein Bild, das Selenskyj in einem Shirt mit Nazi-Symbol zeigen sollte.

Die russische Botschaft in Südafrika machte sich noch weniger Mühe und twitterte am 14. Februar ein Video, das zeigen soll, wie ein Soldat der Ukraine auf einem "Leopard"-Panzer einen Hitler-Gruß zeige. Ein Klick auf das Video reicht allerdings, um zu sehen, dass der Soldat keinen Nazi-Gruß zeigt. Twitter ergänzte den Tweet mit einem Warnhinweis, da es sich um einen irreführenden Inhalt handelt. Ein Nutzer kommentierte: "Jedes Abbiege-Geste von mir beim Fahrradfahren sieht mehr nach Hitlergruß aus als das da."

Screenshot des twitter-Accounts EmbassyofRussia, Stand 23.2.2023

Ständige Wiederholungen

Ein einzelner irreführender Tweet hat sicherlich kaum eine Wirkung. Russland setzt aber auf das ständige Wiederholen von Behauptungen - unabhängig davon, wie plausibel sie sind. Eine Daten-Analyse aus dem Januar zeigt: Häufiger als je zuvor sprach Putin im Jahr 2022 von "Genozid" und "Neonazis", also den Mythen, mit denen Kreml und Staatspropaganda die Invasion in die Ukraine rechtfertigten.

Die russische Propaganda folgt stets einer Doppelstrategie: Zum einen wird sämtliche Schuld stets abgestritten und eine Vorwärtsverteidigung eingelegt. Parallel werden zahlreiche "alternative" Erklärungen verbreitet, so abstrus sie auch seien. Diese Strategien waren in den vergangenen Jahren immer wieder zu beobachten, sei es im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen in Syrien, beim Abschuss von Flug MH17, dem Mordanschlag im Tiergarten, dem Anschlag auf den Ex-Agenten Skripal oder nach Kriegsverbrechen in der Ukraine oder dem Angriffskrieg an sich - im Duktus des Kremls euphemistisch eine "Spezialoperation".

Das Bundesamt für Verfassungsschutz betont, Russland begleite "seine militärischen Aggressionen mit einer Flut von Desinformation und Propaganda. Diese haben zum Ziel, die eigenen Kriegshandlungen zu legitimieren, aber auch Spaltungslinien innerhalb der deutschen Gesellschaft zu öffnen und Misstrauen in das staatliche Handeln hierzulande zu schüren".

EU-Chefdiplomat Borrell warnte jüngst bei einer Konferenz: "Putins Bomben töten Menschen in der Ukraine, während seine Manipulationsindustrie die Köpfe der Menschen in Russland und weltweit angreift und versucht, sie davon abzuhalten, zu erkennen, wer für die Morde, die Stromrechnungen, die sie nicht bezahlen können, die wirtschaftliche Not und den Hunger, der sich durch den von Russland angezettelten Krieg verschlimmert hat, verantwortlich ist."

Putin versuche, so der spanische Sozialdemokrat weiter, "auf zynische Weise, den Menschen vorzugaukeln, dass das Recht des Stärkeren gelte und dass Autokraten mit Gräueltaten davonkommen können". Der Kreml will einmal mehr Verbrechen in einem Dunst der Desinformation verschwinden lassen.

Anmerkung der Redaktion: Patrick Gensing war bis 2022 leitender Redakteur des ARD-faktenfinders und arbeitet inzwischen nebenberuflich als freier Journalist.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 21. Februar 2023 um 14:00 Uhr.