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Viele Atemwegserkrankungen Immunsystem nicht durch Corona-Maßnahmen geschwächt

Stand: 19.12.2023 13:26 Uhr

Derzeit sind viele Menschen mit Atemwegserregern infiziert. Oftmals wird behauptet, das liege an einer Schwächung des Immunsystems infolge der Schutzmaßnahmen während der Pandemie. Doch das stimmt so nicht.

Von Carla Reveland und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Husten, Schnupfen, Halsschmerzen: In Deutschland sind in den vergangenen Wochen auffällig viele Menschen an Atemwegserregern erkrankt. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) waren in der 49. Kalenderwoche etwa 9,5 Prozent der Deutschen infiziert, das entspricht in etwa 7,9 Millionen Menschen. Mit Blick auf die jüngere Vergangenheit waren es nur im Jahr 2022 zu dem Zeitpunkt noch mehr.

Dass die Zahlen der Infektionen ausgerechnet in den beiden Jahren nach Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen so hoch sind, sorgt im Netz für reichlich Spekulationen. Eine weit verbreitete Behauptung dabei ist, dass ausgerechnet die Schutzmaßnahmen der Grund für die Anfälligkeit der Menschen sei. Auch in Medien ist von einem "durch die Schutzmaßnahmen geschwächtes Immunsystem" zu lesen.

Dass das Immunsystem durch fehlendes "Training" wegen der Hygienemaßnahmen geschwächt sei, ist falsch, sagt der Immunologe Carsten Watzl, Professor an der Universität Dortmund. "Eine ausgelassene Infektion ist erstmal nichts Schlechtes für das Immunsystem. Wir müssen unser Immunsystem nicht erst durch Infektionen aktivieren, damit es gut funktioniert." Es gebe zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass die Immunsysteme durch die Hygienemaßnahmen geschwächt seien.

Nachholeffekte Grund für viele Ansteckungen

"Das hohe Infektionsgeschehen derzeit hat überwiegend mit den Nachholeffekten zu tun", sagt Watzl. "Während der Pandemie sind wegen der Hygienemaßnahmen deutlich weniger Menschen mit Atemwegserregern in Kontakt gekommen." Durch eine Infektion baue der Mensch jedoch auch eine Immunität auf, die vor einer erneuten Ansteckung durch den gleichen Erreger schütze - zumindest für eine gewisse Zeit. "Dieser Schutz lässt nach ein paar Jahren wieder nach und dann kann ich mich wieder infizieren", sagt Watzl.

Durch den Wegfall der Hygienemaßnahmen würden diese Infektionen nun nachgeholt werden, da viele Menschen durch die längere Zeit ohne Infektion anfälliger für die Atemwegserreger geworden seien. "Das heißt aber nicht, dass mein Immunsystem deshalb geschwächt worden ist", sagt Watzl. Die Infektionen, die es ohne Hygienemaßnahmen sonst verteilt über die vergangenen Jahre gegeben hätte, träten nun jedoch geballter auf. "Deswegen haben wir im letzten Jahr diese besonders hohe Welle gehabt. Da aber sich nicht alle Menschen dabei infiziert haben, gibt es dieses Jahr ebenfalls noch mehr Infektionen."

Hinzu komme, dass es mit dem Coronavirus nun einen weiteren Atemwegserreger gebe. Nach Angaben des RKI gehen zurzeit etwa ein Viertel der Atemwegserkrankungen auf das Coronavirus zurück. Einen ähnlich hohen Anteil haben lediglich die Rhinoviren, während Influenzaviren noch keine bedeutende Rolle spielen. "Das heißt, wenn wir die Corona-Infektionen herausrechnen würden, dann wären wir bei der Zahl der Atemwegsinfektionen auch wieder auf einem Niveau, was wir vor der Pandemie hatten."

Verschwörungsideologen machen Impfung verantwortlich

In verschiedenen Verschwörungsideologischen Kanälen beispielsweise auf Telegram wird hingegen unter anderem die Corona-Impfung als Grund für die vielen Infektionen genannt. "Die Impfung ist immer noch das Feindbild Nummer eins in der Szene, weshalb versucht wird, jede Krankheit und jeder Todesfall durch die Impfung zu erklären", sagt Josef Holnburger, Geschäftsführer des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS).

Als einer der Hauptgründe für die vermeintliche Gefährdung durch die Corona-Impfstoffe wird in den verschwörungsideologischen Kanälen das Spike-Protein genannt. So wird beispielsweise behauptet, dass wegen des Spike-Proteins, das nach einer mRNA-Impfung im Körper gebildet wird, die weißen Blutkörperchen deaktivierten und dadurch das Immunsystem schwächten. Unter anderem die Faktencheck-Redaktion der Nachrichtenagentur AFP hat das bereits widerlegt.

Was ist das Spike-Protein?

Das Spike-Protein ist die nach außen ragende Proteinstruktur einer Virushülle, die in verschiedenen Virusfamilien vorkommt, unter anderem auch bei SARS-CoV-2. Durch diese Struktur dockt das Virus an Wirtszellen im Menschen an.
Die mRNA-Impfstoffe machen sich das zunutze: Sie sorgen dafür, dass in einigen Körperzellen Spike-Proteine hergestellt werden. Das Immunsystem erkennt diese und reagiert darauf mit der Bildung von Antikörpern gegen die Spike-Proteine. Bei einer Infektion mit dem Coronavirus erinnert sich das Immunsystem an die Spike-Proteine und kann dadurch schneller Antikörper bilden.

"Das Spike-Protein alleine macht nicht krank. Es ist eine absurde Annahme, dass man in irgendeiner Art und Weise von einem Spike-Protein Symptome bekommen könnte", sagte Virologin Monika Redlberger-Fritz vom Zentrum für Virologie an der Medizinischen Universität Wien dem BR-Faktenfuchs.

Anders sei das mit den Coronainfektionen, sagt Watzl. "Die meisten Menschen haben die Infektion gut überstanden. Aber wir sehen mit Long Covid, dass für einen Teil der Menschen längerfristige Komplikationen auftreten. Und das kann durchaus auch bleibende Veränderungen im Immunsystem hervorrufen."

Geld verdienen mit Panikmache?

Dennoch hält sich die Desinformation zum Thema Spike-Proteine vor allem in den verschwörungsideologischen Kanälen hartnäckig. Auch für Ungeimpfte wird es dort oftmals als Gefahr dargestellt, durch das sogenannte Shedding. "Shedding beschreibt das angebliche Phänomen, dass eine Impfung nicht nur für den Geimpften selbst negative Auswirkungen habe, sondern Ungeimpfte durch den Kontakt zu Geimpften geschädigt werden könnten", sagt Holnburger. Auch hierfür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Dennoch werde mit Angstmache rund um das Thema versucht, eigene Produkte zu verkaufen.

"Es hat eine Professionalisierung bei einigen Akteuren der 'Querdenken'-Szene stattgefunden", sagt Holnburger. Der Verschwörungsideologe und ehemalige Hals-Nasen-Ohrenarzt Bodo Schiffmann vertreibt mittlerweile beispielsweise sein eigenes Produkt, welches unter anderem gegen Impfschäden, Long-Covid oder auch gegen "Shedding" helfen soll.

Schiffmann schreibt auf seinem Telegram-Kanal von "verbotenem Heilwissen" und bewirbt sein Produkt unter anderem mit den Worten: "Mit diesem Produkt hoffe ich verhindern zu können, dass alle, die an dem Impfexperiment teilgenommen haben, einen hohen Preis dafür bezahlen müssen." Empfehlen würde Schiffmann die Einnahme seines Produkts auch "Partnern von Personen, die mit einem mRNA-Produkt behandelt wurden."

"Schiffmann und andere Verschwörungsideologen verbreiten das Shedding-Narrativ nach wie vor recht erfolgreich, schüren damit Unsicherheiten und geben im Falle von Schiffmann mit seinem Produkt Versprechungen ab, die jeder wissenschaftlichen oder medizinischen Grundlage entbehren", so Holnburger.

Auch viele weitere Verschwörungsideologen bewerben verschiedenste Produkte, die beispielsweise gegen angebliche Nachwirkungen der Corona-Impfung helfen sollen. Das sei laut Holnburger besonders makaber, da für ein erfundenes Problem direkt eine vermeintliche Lösung angeboten werde, von der finanziell profitiert werden soll.

Die Produktpalette reicht dabei von Nahrungsergänzungsmitteln über homöopathische Mitteln hin zu Kristallmatratzen und -matten und werde aggressiv beworben, so Holnburger. Das liege vor allem daran, dass sich einige Personen aus der "Querdenker"-Szene mit ihrem alten Leben gebrochen, sich mit Freunden zerstritten und manchmal sogar ihren Job aufgegeben haben und sie nun ihren Lebensunterhalt mit der Widmung von Verschwörungsideologien bestreiten müssten.

Da das Thema Corona jedoch nicht mehr so viele Menschen mobilisiert, werde mit aller Macht versucht, aus dem verbliebenen Personenkreis maximal viel Geld zu ziehen.

Viel genutzt werden beispielsweise Affiliate Links, also Empfehlungslinks zu Produkten, an deren Umsatz derjenige beteiligt wird, der diese Links verbreitet und für die Produkte wirbt. Nahezu alle größeren Telegram-Kanäle der Querdenken- und Verschwörungsszene nutzen diese Art, um Einnahmen zu generieren.

Supplemente nur bei Mangel sinnvoll

Der Nutzen von Nahrungsergänzungsmitteln zur Stärkung des Immunsystems hänge stark von der Nährstoffversorgung eines Menschen ab, sagt Watzl. "Als ein sehr großes Organ in unserem Körper braucht das Immunsystem natürlich bestimmte Spurenelemente, Vitamine und Energie. Die bekomme ich aber in den meisten Fällen durch eine ausgewogene Ernährung."

Die meisten Menschen würden mit einem normal funktionierenden Immunsystem geboren werden und müssten nicht erst extra etwas dafür tun oder ganz bestimmte Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, um es überhaupt zu aktivieren.

Durch Mangelernährung, zu wenig Bewegung oder Stress könne das Immunsystem jedoch geschwächt werden, so Watzl. "Bei einem Mangel beispielsweise an Vitamin D kann eine Supplementierung sinnvoll sein. Ansonsten hat es jedoch keinen nachweislichen Effekt auf das Immunsystem." Ein gesunder Lebensstil bestehend aus ausreichend Schlaf, einer ausgewogenen Ernährung und genügend Bewegung sei Studien zufolge die beste Voraussetzung für ein starkes Immunsystem.

Dass dennoch so viele Menschen auf bestimmte Mittelchen schwören, erklärt sich Watzl mit dem Placeboeffekt. "Wenn ich glaube, dass mir diese Vitamin D-Tabletten unglaublich viel bringen, dann kann der Placeboeffekt tatsächlich für eine positive Wirkung sorgen. Auch wenn das dann nichts mit dem eigentlichen Supplement zu tun hat."