Erkältungssaison "Wir steigen auf sehr hohem Niveau ein"
Millionen Menschen in Deutschland haben derzeit eine Atemwegserkrankung. Der Immunologe Watzl erklärt im Interview, welche Viren derzeit unterwegs sind, welche Rolle Sars-COV2 spielt - und wie man sich schützen kann.
tagesschau.de: Das Robert Koch-Institut geht davon aus, dass aktuell in Deutschland 7,4 Millionen Menschen eine akute Atemwegserkrankung haben. Sind diese Zahlen gerade besonders hoch, oder ist das normal?
Carsten Watzl: Wir sind höher als vor Corona. Wir steigen auf sehr hohem Niveau in die aktuelle Erkältungssaison ein. Letztes Jahr war es noch höher - aber man muss schon sagen, verglichen mit Corona sind wir gut dabei.
tagesschau.de: Was ist denn im Moment alles unterwegs?
Watzl: Aktuell ist es noch so, dass die meisten Infektionen von Rhinoviren verursacht werden. Das sind die normalen Erkältungsviren. An Stelle zwei ist dann aber auch schon das Coronavirus, also Sars-CoV2. Das macht so ungefähr jede fünfte Infektion aus. Andere Viren wie RSV und die Grippe, also die Influenza, die kommen gerade erst.
Carsten Watzl ist ein deutscher Immunologe. Er leitet den Fachbereich Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. Er ist 2013 Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
tagesschau.de: Sind wir im Moment ein bisschen anfälliger für solche Erkrankungen?
Watzl: Bei einigen dieser Atemwegserkrankungen ist es so, dass man, wenn man sich einmal infiziert hat, eine Immunität entwickelt, die einen davor schützt, dass man sich erst einmal wieder nicht mit dem gleichen Erreger ansteckt.
Diese Immunität hält aber nur ein paar Jahre an. Und während der Corona-Phase hatten wir die Situation, dass wir durch die Hygienemaßnahmen natürlich viele Erreger von uns ferngehalten haben. Die Leute, die 2021 oder in den beiden Jahren davor noch fällig dafür waren, diese Infektion wieder zu bekommen, haben sie nicht bekommen, weil der Erreger nicht da war.
Das wird gerade so ein bisschen nachgeholt. Das haben wir sehr extrem letztes Jahr gesehen. Wahrscheinlich ist davon aber dieses Jahr auch noch ein bisschen was zu beobachten.
tagesschau.de: Das heißt, das Immunsystem muss quasi wieder lernen, mit diesen Infektionen und mit den verschiedenen Erregern klarzukommen. Oder was passiert in unserem Körper gerade?
Watzl: Es ist nicht so, dass unser Immunsystem durch die Hygienemaßnahmen jetzt schlapp darniederliegt. Es ist genauso gut wie vorher. Aber diese Immunität, die wir uns alle paar Jahre auffrischen, hat während der Hygienemaßnahmen nicht stattgefunden - und deshalb sind wir wieder ein bisschen mehr dran. Für einige von diesen Infektionen heißt das aber nicht, dass unser Immunsystem jetzt besonders schlapp wäre.
tagesschau.de: Können wir irgendwas tun, um das Immunsystem ein bisschen zu unterstützen?
Watzl: Als Immunologe wehre ich mich immer ein bisschen dagegen, dass man aktiv etwas tun muss, um sein Immunsystem überhaupt erst zu stärken. Aber natürlich ist das Immunsystem ein großes und komplexes Organ, das Nährstoffe, Spurenelemente, Vitamine für eine vernünftige Funktion braucht.
Man sollte das Immunsystem nicht schwächen. Das heißt, man sollte regelmäßig Sport treiben, man sollte sich gesund ernähren. Man braucht eine gewisse Schlafhygiene, weil auch das Immunsystem Ruhe braucht. Und wenn man ein bisschen Stressreduktion machen kann, dann hilft es auch. Das sind alles so Maßnahmen, damit das Immunsystem optimal funktioniert.
tagesschau.de: Jetzt haben Sie gerade gesagt, dass zum Teil auch wieder Corona-Infektionen dabei sind. Wie sicher sind denn eigentlich diese Zahlen? Getestet wird ja im Moment nicht mehr so richtig, oder?
Watzl: Wir testen sehr sehr wenig. Die einzigen verlässlichen Zahlen sind eigentlich die Belegungen der Intensivstationsbetten. Da sind wir aktuell bei fünf Prozent aller Betten in den Intensivstationen, die mit Corona-Patienten belegt sind. Da wird ja noch getestet.
Das zeigt, dass sich aktuell sicherlich viele Menschen infizieren, aber zum Glück nicht schwer krank werden - wegen dieser guten Grundimmunität, die wir mittlerweile haben.
Das heißt aber auch, dass immer noch Menschen auch schwer an Corona erkranken können. Gerade die Hochbetagten, die Vorerkrankten, die gilt es auch natürlich noch weiterhin zu schützen.
"Dauerhafte Maskenpflicht nicht nötig"
tagesschau.de: Und wie kann ich mich im Moment vor Corona schützen?
Watzl: Der Schutz vor Corona ist ähnlich wie vor anderen Erkältungserkrankungen auch. Wir wissen: Die Maske wirkt. Wenn mir keine Infektion abholen möchte - egal, ob Corona, Grippe oder etwas anderes -, dann müsste ich eine Maske tragen, wenn ich mich in Innenräumen mit vielen anderen Leuten aufhalte - oder wenn ich in Bus und Bahn unterwegs bin. Das sind die gleichen Sachen, die wir auch schon während der Corona-Zeit gelernt haben.
Wir brauchen aber sicherlich keine allgemeine Maskenpflicht mehr, nur weil jetzt wieder die Erkältungssaison ist.
tagesschau.de: Noch einen Schutz würde ja eine Impfung darstellen. Wer ist im Moment noch aufgerufen, sich impfen zu lassen?
Watzl: Die Impfung gibt für einen gewissen Zeitraum einen Schutz auch vor der Infektion. Da ist es wichtig, dass man sich dann natürlich mit dem jetzt aktuell angepassten Impfstoff impfen lässt, weil der sehr gut an die jetzt vorherrschenden Varianten angepasst ist. Damit hat man dann zum einen wieder einen gewissen Schutz für diese Erkältungssaison, dass man sich vielleicht nicht mit Corona ansteckt.
Zum anderen aber - und das ist das viel Wichtigere bei der Impfung - schützt sie noch einmal besser vor einem schweren Verlauf. Das brauchen gerade die vulnerablen Gruppen, also alle ab 60. Für die ist es empfohlen, aber auch alle Erwachsenen und Kinder mit bestimmten Vorerkrankungen - gerade chronische Erkrankungen oder Erkrankungen, die das Immunsystem betreffen. Und auch Leute, die Medikamente einnehmen, die das Immunsystem schwächen.
Da haben wir dann schon eine relativ große Gruppe, so rund 30 Millionen Menschen oder mehr, für die eigentlich diese Auffrischungsimpfung empfohlen ist.
"Kenne keinen Hausarzt, der jemanden wegschickt"
tagesschau.de: Was ist mit den jüngeren Menschen, die jetzt sagen: "Okay, meine letzte Impfung ist jetzt vielleicht länger als ein Jahr her"? Sollte ich mich noch mal impfen lassen? Keine Vorerkrankungen, gesund, aber unsicher. Was ist mit denen?
Watzl: Die Ständige Impfkommission - die STIKO - sagt, da braucht es eigentlich keine Auffrischungsimpfung. Aber einfach nur vor dem Hintergrund, dass diese Menschen ein relativ geringes Risiko haben, schwer zu erkranken, also im Krankenhaus zu landen.
Das heißt nicht, dass man nur einen Schnupfen hat, wenn man sich infiziert - das kann einen trotzdem auch auch als junge und gesunde Person mal drei bis fünf Tage mit Fieber ins Bett verfrachten. Aber vor dieser schweren Erkrankung ist man immer noch geschützt.
Die fehlende Impfempfehlung der STIKO heißt aber auch, man soll sich halt seine Immunität mit der Infektion auffrischen. Und wer das wirklich nicht möchte, der kann sich natürlich impfen lassen. Ich kenne keinen Hausarzt, der jemanden wegschickt, der sich gegen Corona impfen lassen möchte, nur weil er nicht absolut in dieser Empfehlung drin ist. Und letztendlich sind auch Leute in der STIKO-Empfehlung, die Kontaktpersonen von Risikopatienten sind.
Wenn man unbedingt möchte, fällt jeder unter diese STIKO-Empfehlung.
Impfung für Hochbetagte besser als Infektion
tagesschau.de: Das heißt, die Impfung und die Infektion schützen mich beide.
Watzl: Richtig. Beides macht natürlich die Immunität. Die kriege ich durch die Impfung, aber auch durch die Infektion. Als wir noch gar keine Immunität hatten, war es sicherlich besser, sich diese Immunität durch die Impfung zu holen, weil sie viel weniger risikoreich war. Mittlerweile haben wir eine gewisse Grundimmunität, und dann ist es für einige Menschen laut STIKO auch fast egal, ob man sich die dann per Impfung oder Infektion auffrischt. Für die hochbetagten Vorerkrankten ist es sicherlich besser, sich weiter impfen zu lassen.
tagesschau.de: Welche Coronavariante ist denn aktuell in Deutschland vorwiegend unterwegs?
Watzl: Wir reden immer noch über Omikron-Variante, aber da gibt es ja diese vielen Subvarianten. Über den Sommer war die Variante XBB 1.5 sehr stark bei uns und weltweit unterwegs. Deshalb ist der Impfstoff auch an diese Variante angepasst worden. Die spielt bei uns aktuell nur noch eine untergeordnete Rolle. EG.5 heißt die Variante, die aktuell noch die meisten Infektionen macht. Dann gibt es noch eine Reihe anderer Subvarianten.
Die gute Nachricht ist, dass dieser angepasste Impfstoff auch immer noch sehr gut gegen diese jetzt vorherrschenden Varianten wirkt.
tagesschau.de: Und diese jetzt vorherrschenden Varianten sind die einfach nur ansteckender? Oder was können die im Moment?
Watzl: Im Moment setzen sich solche Virusvarianten durch, die noch ein bisschen ansteckender sind oder die den bestehenden Antikörpern, die die Menschen schon haben, noch ein bisschen besser ausweichen können. Das heißt, da entwickelt sich das Virus weiter. Es ist absehbar, dass es über die nächsten Jahre auch so weitergeht.
Nächsten Winter werden wir wahrscheinlich wieder eine andere Variante haben, auf die unsere bestehenden Antikörper nicht so gut draufpassen. Das heißt, man kann sich darauf einstellen, dass man zumindest für die absehbare Zukunft immer noch jährlich nachimpfen muss.
Vielleicht beruhigt sich das mal irgendwann, aber für die nächsten Jahre sehe ich das noch nicht.
Das Gespräch führte Anja Martini, tagesschau.de