AstraZeneca-Debakel "Irgendwie nicht so gut gelaufen"
Eine fragwürdige Einstufung, irreführende Medienberichte, Skepsis in der Bevölkerung, Probleme bei der Verteilung: Hunderttausende Impfdosen von AstraZeneca sind noch ungenutzt. Es sei "irgendwie nicht so gut gelaufen", meint der Chef der Impfkommission.
Der Impfstoff von AstraZeneca wird in Deutschland mutmaßlich bald auch für über 65-Jährige freigegeben. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, kündigte im ZDF an, den Impfstoff schon bald auch für ältere Menschen empfehlen zu wollen. "Das ist möglich und das werden wir auch tun", sagte Mertens. Nun werde es "sehr bald zu einer neuen, aktualisierten Empfehlung kommen" - auch weil dann wahrscheinlich der Impfstoff des US-Herstellers Johnson & Johnson zugelassen sein werde.
Im Januar hatte die STIKO, die an das Robert Koch-Institut angebunden ist, noch empfohlen, den Impfstoff nur für Personen im Alter von 18 bis 64 Jahren zu verwenden. Für die Effektivität für über 65-Jährige lagen nach Einschätzung der Kommission nicht ausreichend Daten vor. Damit war die Stiko von der Einschätzung der europäischen Arnzeimittelbehörde EMA abgewichen, die zuvor eine Zulassung ohne Altersbeschränkung empfohlen hatte.
Unverständnis bei britischen Experten
Beim Hersteller und britischen Experten war dieses Vorgehen von Anfang an auf großes Unverständnis gestoßen: Der Immunologe Danny Altmann vom Imperial College London erklärte im "Guardian", er sei "verwirrt" über diese Entscheidung. Die Daten von den realen Impfungen in Großbritannien zeigten eine sehr gute Wirksamkeit in der Altersgruppe über 70, die mit der Wirkung in anderen Altersgruppen vergleichbar sei. Auch der Hersteller hatte insistiert, dass die Stiko-Entscheidung "keine akkurate Wiedergabe aller zur Verfügung stehenden Daten" sei.
Wann oder auf Grundlage welcher Daten die Entscheidung nun offenbar geändert werden soll, konnte das RKI auf Anfrage nicht sagen. "Die STIKO hat die Prüfung angekündigt. Zu Ergebnis, Details oder Ergebnissen können wir nicht weiterhelfen", teilte die Behörde auf Anfrage von tagesschau.de lediglich mit.
Berichte über geringe Wirksamkeit falsch
Medien hatten kurz vor der Veröffentlichung der Empfehlungen aus einem Beschlussentwurf beim RKI sowie über angebliche Bedenken in der Bundesregierung über die Wirksamkeit des Impfstoffs berichtet. Das "Handelsblatt" schrieb am 26. Januar, das Vakzin habe "bei Senioren offenbar nur eine Wirksamkeit von acht Prozent". Und weiter: "Die extrem geringe Wirksamkeit bei Senioren stellt indes einen Rückschlag für die Berliner Impfstrategie dar."
Auch die "Bild"-Zeitung berichtete über eine angeblich geringe Wirksamkeit: Grund für die Nicht-Zulassung des Impfstoffs für Senioren sei "die niedrige Wirksamkeit". Wie das Blatt nach eigenen Angaben "aus Regierungskreisen erfuhr, rechnet die Bundesregierung mit einer Wirksamkeit des Impfstoffs bei Menschen über 65 Jahren von unter zehn Prozent".
Das Bundesgesundheitsministerium dementierte umgehend: Auf den ersten Blick scheine es so, dass Dinge verwechselt würden, hieß es in einer Stellungnahme. Rund acht Prozent der Probanden der AstraZeneca-Wirksamkeitsstudie seien zwischen 56 und 69 Jahre alt gewesen, nur drei bis vier Prozent über 70 Jahre. Daraus lasse sich aber nicht eine Wirksamkeit von nur acht Prozent bei Älteren ableiten. Das Unternehmen selbst bezeichnete die Berichte als "komplett falsch".
Auch der Immunologe und Impfstoff-Forscher Leif Erik Sander von der Berliner Charité unterstrich, der Impfstoff von AstraZeneca sei "insgesamt ein sehr sicherer Impfstoff". Stecke man sich trotz Impfung an, verlaufe die Infektion in den meisten Fällen asymptomatisch oder mit sehr milden Symptomen, es gebe "keine Krankenhauseinweisungen und keine Todesfälle". Insgesamt sei der Impfstoff "sehr, sehr wertvoll und kann uns helfen, aus dieser Situation herauszukommen, in der wir ständig mit den Kontaktbeschränkungen leben müssen", so Sander.
Zweifel durch Berichte über Studie
Sowohl die falschen Angaben zur angeblich sehr geringen Wirksamkeit als auch eine Studie, die dem Impfstoff nur "minimalen Schutz" vor einer Infektion mit der südafrikanischen Variante B.1.351 attestierte, sorgten für Verunsicherung. Der Berliner Virologe Christian Drosten erklärte in diesem Zusammenhang, erstens sei die südafrikanische Mutante in Deutschland nicht weit verbreitet, zweitens sei auch gar nicht abzusehen, ob sie sich durchsetzen werde und drittens rechne er fest damit, dass die Impfung auch hier einen wirksamen Schutz vor schweren Verläufen bieten werde.
Der Infektiologe Lawrence Corey von der Universität des Staates Washington, schrieb im "Science"-Magazin zu der Diskussion: "Wollen Sie einen Impfstoff, der Sie vor Husten schützt oder wollen Sie einen Impfstoff, der Sie vor dem Tod bewahrt?"
Inwieweit die Berichte in Deutschland zu massiven Vorbehalten beigetragen haben, lässt sich schwer einschätzen. So liegen Angaben aus Bundesländern vor, wonach Impftermine mit AstraZeneca öfter nicht wahrgenommen werden, so beispielsweise in Rheinland-Pfalz. Gleichzeitig berichten Impfzentren beispielsweise in Baden-Württemberg von einer hohen Nachfrage aus der zweiten Priorisierungsgruppe nach AstraZeneca.
Tatsächlich würden Impftermine nur von ein bis drei Prozent der Klienten nicht wahrgenommen, teilten mehrere Bundesländer auf Anfrage der "Süddeutschen Zeitung" mit. Wie viele Angehörige der Priorisierungsgruppe 1 unter 65 Jahren allerdings keinen Termin machen, weil sie auf einen anderen Impfstoff warten, kann nicht festgestellt werden.
Logistische Probleme bei der Terminierung
Mutmaßlich könnten AstraZeneca-Vorräte also schnell verimpft werden, Interessenten gibt es wohl mehr als genug, doch ergeben sich logistische Probleme für die Impfzentren, die plötzlich andere Altersgruppen bedienen sollen. So berichtete die "Süddeutsche Zeitung" dass es in der ersten Priorisierungsgruppe "kaum noch Menschen unter 65 Jahren" gebe, die noch nicht geimpft seien. So hätten "mehr als 1,5 Millionen Menschen in Gesundheits- und Pflegeberufen bereits eine Erstimpfung erhalten". Unter der Annahme, dass sich ein gewisser Teil nicht impfen lassen wolle, blieben damit nur noch "knapp 150.000 potenzielle Impfkandidaten" in ganz Deutschland übrig. Das Thüringer Gesundheitsministerium teilte dazu mit: "Wir gehen davon aus, dass die Zielgruppe unter 65 der Priorisierungsgruppe 1 in Thüringen weitgehend ausgeschöpft ist."
Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann erklärte im Podcast der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Verzögerungen zudem damit, dass man zum Beispiel in Krankenhäusern und Pflegediensten nicht alle Mitarbeiter auf einmal impfen könne. "Es ist ja einfach vorgekommen, dass Geimpfte einen Tag Fieber bekommen und dann nicht arbeiten können", so Laumann. Daher müssten die Pflegedienste in Etappen impfen, damit die Versorgung der Patienten sichergestellt sei. Man gehe daher jetzt zur Priorisierungsgruppe 2 über, die noch einmal Millionen weiterer Menschen umfasse. "Ich erhalte täglich Hunderte von Zuschriften von Bürgern, die sich unbedingt impfen lassen wollen, die es nicht mehr abwarten können", erklärte Laumann.
Großbritannien impfte bereits Millionen Menschen
Während in Deutschland also Hunderttausende Impfdosen von AstraZeneca noch ungenutzt blieben, wird das Mittel in Großbritannien bereits seit Anfang Januar zusätzlich zu Biontech verimpft. Insgesamt haben mehr als 20 Millionen Briten schon mindestens eine Impfung erhalten.
Ob und wann AstraZeneca nun auch in Deutschland für Ältere eingesetzt und/oder die Impfreihenfolge verändert werden soll, ist noch unklar. Klar ist nur: wertvolle Zeit ist verstrichen, ohne dass vorhandene Dosen verimpft worden sind. Dazu beigetragen haben die Entscheidung und Kommunikation der Stiko, falsche Zahlen und auch logistische Probleme durch die Veränderung der Impfreihenfolge.