Russland Wie mächtig ist Prigoschin?
Er kritisiert nicht nur offen die russische Militärführung. Mit seiner Söldnertruppe macht er auch den Streitkräften Konkurrenz. Doch wie unabhängig ist Wagner-Chef Prigoschin und wie gefährlich kann er Putin werden?
Jewegenij Prigoschin kennt sich mit Gefangenschaft aus. Er weiß, wie man Sträflinge anspricht, um sie für den - wahrscheinlich tödlichen - Einsatz an der Front in der Ukraine zu gewinnen. Die Erfahrung kommt nicht von ungefähr. Noch zu Sowjetzeiten verbrachte er selbst wegen Raubes, Betrugs und weiterer Delikte neun Jahre im Gefängnis.
Das Ende der Sowjetunion eröffnete ihm die Chance auf ein neues Leben. In den 1990er-Jahren kam er groß heraus als Restaurantbesitzer und Caterer in St. Petersburg. Wladimir Putin kehrte bei ihm ein und ließ ihn, als er Staatsoberhaupt geworden war, Bankette ausrichten. Unter den Gästen waren die Präsidenten der USA, George W. Bush, und Frankreichs, Jacques Chirac - wie alte Fotos zeigen.
Dabei blieb es nicht. Mit seinem Unternehmen Concord Gruppe erhielt er staatliche Aufträge, die Streitkräfte, Schulen und Kindergärten mit Essen zu beliefern. Sonst hielt er sich im Hintergrund. Lange wurde nur gemutmaßt, dass er in Russland Trollfabriken zur Beeinflussung von Wahlen betreibt - auch in den USA. Wer ihn mit der Söldnerfirma Wagner und deren Einsätzen in Afrika, Syrien und dem Donbass in Verbindung brachte, den verklagte er.
Das änderte sich mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Prigoschin sah offensichtlich seine Zeit gekommen, als das russische Militär im Frühjahr mit der Offensive auf Kiew scheiterte. Russischen Medienberichten zufolge setzte er durch, dass Wagner die Lücken füllen durfte. Er selbst äußert sich seither immer offener und kritischer über die Militärführung um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.
Ende September bekannte sich Prigoschin dazu, im Mai 2014 Wagner gegründet zu haben, um Söldner in den Donbass und in arabische Staaten, nach Afrika und Lateinamerika zu schicken. Diese "Jungs" seien zu einer "Säule des Vaterlands" geworden.
Hinzu kamen Videos, die einen Mann von Statur und Aussehen Prigoschins zeigen, wie er in Straflagern Häftlinge für den Einsatz in der Ukraine rekrutiert. Kurz vor den Zwischenwahlen in den USA fand sich auf der russischen Plattform VK ein Post seines Accounts, in dem er sich auch zur Einmischung in die US-Wahlen 2016 bekannte, allerdings mit ironischem Unterton.
Am langen Arm des Kreml
Doch wie unabhängig ist Prigoschin? Der Russland- und Militärexperte Mark Galeotti beschreibt Wagner wie auch andere russische Söldner-Firmen als Unternehmen des Kreml. "Als ein Mann, dessen Reichtum vom Kreml abhängt, hat sich Prigoschin als einer der verdeckten Vertreter der Regierung entpuppt, der alles tut, was nötig ist, von der Einrichtung von 'Trollfarmen' in den sozialen Medien bis zur Beschäftigung von Söldnern", schreibt Galeotti in seinem aktuellen Buch "Putins Kriege". Die russische Führung nutzt dabei insbesondere den Vorteil, auf diese Weise Einsätze in Konfliktgebieten und den Verlust von Personal abstreiten zu können.
Die Aktivitäten Prigoschins im Dunstkreis des russischen Verteidigungsministeriums und im Auftrag des Kreml im Ausland sind vielfältig. Sie schaffen reichlich Einnahmemöglichkeiten für Prigoschin, wie Recherchen zum Beispiel der russischen Plattform "Pojekt" und des internationalen Journalistenverbundes OCCRP folgern lassen. Darüber hinaus soll Wagner im Ausland eigenständig Aufgaben übernehmen und dafür Anteile im Bergbau und in anderen Industrien erhalten - auch ohne Weisung des Kreml. Zudem wird über Plünderungen berichtet.
Doch wie weit Prigoschin die Söldnertruppe inklusive Ausbildung, Logistik und Bewaffnung finanziert und wie viel vom Verteidigungsministerium in Moskau kommt, ist unklar. Nach US-Schätzungen kostet der Einsatz Wagners in der Ukraine jeden Monat 100 Millionen US-Dollar.
Zugleich berichteten russische Medien, dass das Verteidigungsministerium Wagner für seine Zwecke einsetzt. So schrieb das Oppositionsmedium "Meduza" im Frühjahr, das Verteidigungsministerium habe die Kontrolle über die Netzwerke Wagners übernommen und nutze dessen Reputation zur Rekrutierung von Soldaten. Militärexperte Galeotti fasst die Position Prigoschins so zusammen: "Russland ist ein hybrider Staat, in dem die Grenzen zwischen öffentlich und privat sehr durchlässig sind, und Wagner scheint in beiden Bereichen zu operieren."
In einer Grauzone
Die russische Politik-Analystin Alexandra Prokopenko warnte davor, von der Medienpräsenz von Hardlinern wie Prigoschin auf deren wirkliche Macht zu schließen. Über die Bedeutung einer Person entscheide immer noch Putin, schrieb sie im November in einem Text für Carnegie Endowment for International Peace. Der Kreml bestreitet offiziell Verbindungen zu Wagner. Aktuell zeigt sich Putin nicht mit Prigoschin in der Öffentlichkeit.
Über Söldner-Unternehmen sagte Präsident: "Wenn sie die russischen Gesetze einhalten, haben sie jedes Recht, überall auf der Welt zu arbeiten und ihre Geschäftsinteressen zu fördern." Doch nach wie vor sind sie in Russland gesetzlich verboten. Wagner wurde Galeotti zufolge offenbar in Argentinien registriert. Dieses Agieren in einer juristischen Grauzone könnte jederzeit ein Verbot Wagners und eine Verurteilung Prigoschins ermöglichen, sollte die Führung um Putin dies wollen.
Wieweit sie Prigoschin weiterhin als nützlich erachtet oder ob er in der Lage ist, eine eigene Machtbasis zu schaffen, hängt zu einem großen Teil vom Erfolg seiner Söldner in der Ukraine ab. Deren Reputation beruhte bis Kriegsbeginn darauf, dass sie als gut ausgebildete Veteranen der Streitkräfte galten. Die Rekrutierung von Gefangenen aus Straflagern, die nicht den üblichen Einstellungstests unterworfen wurden, verändern dieses Image. Nach US-Einschätzungen besteht Wagner derzeit aus 10.000 Söldnern und 40.000 Sträflingen.
Außer Kontrolle?
Sie werden offenbar an vorderster Front eingesetzt. Bei der Einnahme der Städte Popasna und Lysyschansk im Frühjahr spielte Wagner nach Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes wohl eine zentrale Rolle. Wagner habe allerdings schwere Verluste erlitten. Bei den seit Monaten andauernden Gefechten um die Stadt Bachmut räumte Prigoschin selbst ein, dass die Kämpfe hart seien. Seine Männer kämpften manchmal "mehrere Wochen um ein einziges Haus". Etwa 1000 Kämpfer soll Wagner dort in den vergangenen Wochen verloren haben.
Im Unterschied zu den regulären Soldaten haben die Sträflinge aber eine besondere Motivation: nach einem halben Jahr Einsatz an der Front in die Freiheit entlassen zu werden. Dieses Versprechen unterstrich Prigoschin, als er dieser Tage einige Männer präsentierte, die ihre sechs Monate absolviert hatten. Er warnte sie davor, das im Krieg Erlernte "auf verbotenem Gebiet" einzusetzen. Falls sie wieder Feinde töten wollten, sollten sie zurück zu Wagner kommen.
Es besteht aber nicht nur die Gefahr, dass kampferfahrene Schwerverbrecher in Russland außer Kontrolle geraten. US-Einschätzungen zufolge lässt das russische Verteidigungsministerium Wagner inzwischen weitgehend gewähren. Offensichtlich werde Wagner zu einem mit dem regulären Militär rivalisierendem Machtzentrum. Offen bleibt für den Moment, ob es sich dabei um das bekannte Vorgehen Putins handelt, Rivalen untereinander auszuspielen und sich selbst als moderate Variante im Vergleich zu den Hardlinern zu präsentieren - oder ob Putin doch die Zügel entgleiten und sich das Spiel aus Willkür, Intransparenz und Korruption am Ende gegen ihn wendet.