Angriffskrieg gegen die Ukraine Verdeckte Rekrutierung in Russland
Bislang verzichtet die russische Führung auf eine Generalmobilmachung und setzt auf verdeckte Rekrutierung. Angeworben wird offenbar über die Wagner-Gruppe und auch in Gefängnissen. Rechtsextreme kämpfen ebenfalls.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat für die Streitkräfte beider Seiten enorme Verluste zur Folge. Um in diesem Abnutzungskrieg nicht zu verlieren, benötigen sie Zehntausende Soldaten. Da die russische Führung aus innenpolitischen Gründen bislang auf eine Generalmobilmachung verzichtet, erfolgt eine verdeckte Mobilmachung mittels Rekrutierung von Vertragssoldaten, die mit einem Sold höher als üblich gelockt oder zwangsweise verpflichtet werden.
In Telegram-Nachrichtenkanälen aus russischen Regionen wie Baschkortostan, Tatarstan und Städten wie Perm und Tscheljabinsk finden sich Berichte über die Aufstellung von "Freiwilligen-Bataillonen", die in die Ukraine entsandt werden. Das Internetportal "Meduza" berichtet zudem von einem Regiment in Moskau, dessen Mitglieder einem Anwerber zufolge ihr Gehalt aus dem Moskauer Stadthaushalt überwiesen bekommen sollen.
Wagner-Gruppe an vorderster Front
"Meduza" berichtet im selben Artikel, das russische Verteidigungsministerium habe die Kontrolle über die Netzwerke der privaten Militärfirma Gruppe Wagner übernommen und nutze dessen Reputation zur Rekrutierung. Allerdings seien die Anforderungen gesenkt worden. Nicht einmal Drogentests würden noch vor der Dienstverpflichtung durchgeführt.
Angehörige von Insassen mehrerer Straflager berichteten ebenfalls von Anwerbekampagnen. Die russische Menschenrechtsorganisation gulagu.net nannte Strafkolonien in bzw. bei St. Petersburg, Twer, Rjasan, Smolensk, Rostow, Woronesch and Lipetsk, wo über die Wagner-Gruppe Insassen mit Kampferfahrung für Einsätze in der Ukraine gesucht werden soll. In Adygien seien 300 Männer in das Militär aufgenommen worden.
Derzeit setze das russische Militär Kämpfer der Wagner-Gruppe zur Verstärkung und zum Ausgleich von Verlusten an vorderster Front ein, berichtete auch der britische Militärgeheimdienst: Bei der Einnahme der Städte Popasna und Lysyschansk habe Wagner sehr wahrscheinlich eine zentrale Rolle gespielt und schwere Verluste erlitten. Involviert in die Kämpfe wurde sie offenbar aber erst nach den Niederlagen der russischen Streitkräfte zu Beginn des Angriffskrieges.
Enge Verbindung zu staatlichen Militärstrukturen
"Meduza" zufolge ist die Wagner-Gruppe bei Ausrüstung und Infrastruktur vom regulären Militär und dem Militärgeheimdienst GRU abhängig. Ihre Entstehung gehe auf den russischen Generalstab zurück. Dieser habe den Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin damit beauftragt, mit den Einnahmen aus Aufträgen für die Lebensmittelversorgung der russischen Streitkräfte die Truppe aufzubauen. Prigoschin wurde inzwischen als "Held der Russischen Föderation" ausgezeichnet.
Dieser wiederum beantragte ein Strafverfahren gegen zwei "Meduza"-Mitarbeiterinnen wegen Desinformation, nachdem er Fragen zur Beteiligung Wagners am Krieg in der Ukraine erhalten hatte.
Rechtsextreme Milizen beteiligt
Bereits 2014 war die Wagner-Gruppe in der Ostukraine aktiv. Es gibt Hinweise auf Verbindungen zu anderen Gruppen, die damals im Donbass und auch in Syrien aktiv waren. Dazu zählt die Miliz "Russitsch", die für besondere Grausamkeit bekannt ist und offen mit neonazistischen Symbolen auftritt.
Als eines ihrer Mitglieder gab sich der russische Staatsbürger Jan P. zu erkennen. Von ihm finden sich zahlreiche Spuren im Internet. Laut der renommierten russischen Nachrichtenplattform fontanka.ru nahm er Mitte Juni an einem Begräbnis für einen gefallenen Kameraden in St. Petersburg teil. Er habe eine Grabrede gehalten, umgeben von uniformierten Mitgliedern der Donbass-Freiwilligen-Union. Fontanka.ru zitierte Jan P.: Sie hätten seit dem 24. Februar gemeinsam die Grenze überquert und begonnen, "unsere russischen Gebiete von den Eindringlingen zu befreien". Der Tote sei als "wahrer Krieger mit den Waffen in der Hand" gestorben. Krieger wie er vernichteten den Feind, "indem sie ihn in Stücke reißen".
Jan P. kämpfte verschiedenen Medienberichten zufolge bereits 2014 im Donbass. Er steht demnach auf der Fahndungsliste der ukrainischen Militärstaatsanwaltschaft. Der norwegische Sender NRK verfolgte seinen Weg: Er sei 2004 als Teenager nach Norwegen gekommen und durch Verbindungen in die rechtsextreme Szene in der Stadt Tønsberg aufgefallen. So sei er mit einer umstrittenen "Zivilschutzgruppe" namens "Odins Soldaten" auf Streife gegangen. 2016 sei er aus Norwegen abgeschoben worden, die Behörden hätten ihn als Bedrohung für die nationale Sicherheit eingeordnet. Laut Posts auf Telegram ist er inzwischen Anführer von "Russitsch", wobei sich die Angaben nicht unabhängig überprüfen lassen.
Trainingszentrum in St. Petersburg
Eine weitere am Krieg beteiligte Gruppe soll die "Russische Imperiale Legion" (RIL) sein, die sich als ultranationalistisch, revisionistisch und monarchistisch gibt. Als paramalitärischer Arm der "Russischen Imperialen Bewegung" aus St. Petersburg soll sie ebenfalls schon 2014 in der Ukraine an Kämpfen im Donbass beteiligt gewesen sein. In den USA und Kanada ist sie als terroristische Organisation gelistet.
RIL und "Russitsch" tauchten in einem vertraulichen Bericht des Bundesnachrichtendienstes (BND) auf, aus dem der "Spiegel" Mitte Mai zitierte. Auf eine Anfrage der Linkspartei-Bundestagsabgeordneten Martina Renner teilte das Bundesinnenministerium mit, RIL betreibe in St. Petersburg ein Trainingszentrum "Partisan", wo Veteranen Ausbildung an Waffen, im Nahkampf sowie in der Anwendung paramilitärischer Strategien und Taktiken durchführten. Vereinzelt hätten auch EU-Bürger teilgenommen, darunter Mitglieder der Organisation "Junge Nationalisten" und der Partei "Der III. Weg".
"Entnazifizierung entbehrt jeglicher Grundlage"
Renner betont, es bestünden vielfältige Verbindungen deutscher Neonazis nach Russland, es werde intensiv an Netzwerken gearbeitet. "Nationalistische Großmachtfantasien, Antisemitismus und Rassismus sind ideologische Gemeinsamkeiten auf denen auch der Kampf russisch geprägter Separatistengruppen in der Ostukraine seit 2014 beruht. Deutsche Sicherheitsbehörden müssen hier in Zukunft viel genauer hinsehen, wenn deutsche Rechtsextremisten nach Russland ausreisen wollen", schrieb Renner tagesschau.de.
Das russische Narrativ von der Entnazifizierung in der Ukraine wiederum entbehre jeglicher Grundlage, so Renner. "Es dient letzten Endes dazu, die ukrainische Gesellschaft zu entmenschlichen, um die eigenen offensichtlich begangenen Kriegsverbrechen zu rechtfertigen."
Der vom "Spiegel" zitierte BND-Bericht sorgte für ein größeres Echo in russischen und ukrainischen Medien, wobei einerseits betont wurde, dass die Beteiligung russischer Ultranationalisten und Rechtsextremer am Krieg in der Ukraine ein offenes Geheimnis sei. Anderseits wurde auf den Direktor des auf Nationalismus und Rassismus Analysezentrums SOWA, Alexander Werchowski, verwiesen. Ihm zufolge ist die Zahl rechtsextremer Kämpfer in der Ukraine nicht hoch.
Ein anderer Teil tritt verstärkt mit imperialistischen und revisionistischen Positionen auf und ist damit nicht weit entfernt von den Positionen, die die Führung um Putin vertritt. Offenbar duldet die russische Militärführung deren Aktivitäten in der Ukraine, wenn sie nicht sogar durch die Anwerbemaßnahmen gefördert werden, um die eigenen Reihen zu füllen und das Ziel zu erreichen, den ukrainischen Staat zu zerstören.