Anerkennung als Völkermord Ein wichtiges Zeichen für Armenien
Vor 106 Jahren begannen Vertreibung und Tötung der Armenier im Osmanischen Reich. Um eine Anerkennung als Völkermord wird seit Jahrzehnten gerungen. Gerade jetzt ist sie für die Armenier wichtig.
Der 24. April ist ein Tag, der alle Armenier vereint, so groß ihre Differenzen im Alltag sein mögen: Zu Tausenden pilgern sie auf den Tsitsernakaberd genannten Berg, nordwestlich des Zentrums der Hauptstadt Jerewan. Auch Diaspora-Armenier aus den USA, Südamerika, Frankreich und dem Nahen Osten reisen jedes Jahr an. Sie legen am Denkmal für den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich Blumen nieder und halten inne, um der Massaker und Vertreibungen aus dem Osmanischen Reich zu gedenken, die im Frühjahr 1915 begannen.
Das Denkmal wurde bereits Ende der 1960er-Jahre errichtet, als Armenien zur Sowjetunion gehörte. Nach Protesten zum 50. Jahrestag 1965 entschloss sich die sowjetische Führung in Moskau, das Schweigen zu beenden und die Errichtung eines Denkmals zuzulassen. Der Kampf um die internationale Anerkennung als Völkermord dauert bis heute an.
Türkei weist systematische Tötungen zurück
Die Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches akzeptiert zwar, dass osmanische Streitkräfte viele Armenier töteten. Aber dies sei während eines Bürgerkrieges geschehen. Dass es sich um systematische und orchestrierte Tötungen gehandelt habe - einen Völkermord - weist die Führung in Ankara ebenso zurück wie die Schätzungen von bis zu 1,5 Millionen Todesopfern.
Bis 2006 war zudem die vage formulierte "Herabwürdigung des Türkentums" ein Straftatbestand. Dies wurde 2008 in "Beleidigung der türkischen Nation" geändert. Die EU kritisierte jedoch auch die konkretisierende Neufassung als Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Gesetzesinitiativen gegen Leugnung
Trotz massiven Drucks durch die Türkei wurden die Massaker inzwischen in mehreren Ländern als Völkermord anerkannt. In vielen Fällen handelt es sich um Resolutionen von Parlamenten und Abgeordnetenkammern, viele davon zum 100. Jahrestag im Jahr 2015. Auch der Papst sprach damals von Völkermord, wofür ihn die türkische Regierung scharf kritisierte.
In mehreren Staaten wie der Schweiz, Belgien und Frankreich gab es Gesetzesinitiativen, in deren Rahmen eine Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe gestellt werden sollte - mit Blick auf die Meinungsfreiheit wurden die Entwürfe jedoch abgeschwächt.
Bidens Wahlkampf-Versprechen
Viele Initiativen gehen auf politisches Engagement armenischer Diaspora-Gemeinden zurück, so auch in den USA: Joe Biden hatte 2020 als Präsidentschaftskandidat in einem Tweet versprochen, eine Resolution zur Anerkennung des Völkermordes unterstützen zu wollen, dies im Rahmen einer Priorisierung der universellen Menschenrechte in der Außenpolitik.
So weit wie er ging bislang noch kein US-Präsident - mit Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei, dessen Lage im Nahen Osten von erheblicher strategischer Bedeutung ist. Allerdings benötigt auch die Türkei im Umgang mit Rivalen wie Russland ein gutes Arbeitsverhältnis zu den USA. Experten erwarten deshalb eine überschaubare Reaktion der Türkei.
Biden erhielt jedoch vor wenigen Tagen Unterstützung von Kongress-Abgeordneten der Demokraten und der Republikaner mit der Aufforderung, seine Ankündigung auch umzusetzen und "jahrzehntelanges Unrecht zu korrigieren". Die Anerkennung der Wahrheit solle auch dazu beitragen, künftig Völkermorde und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, hieß es darin. Im Jahr 2019 hatte der US-Senat bereits eine nicht bindende Resolution dazu verabschiedet.
Auch Deutschland bekannte Völkermord
Nach jahrelangen Diskussionen verabschiedete auch der Bundestag im Juni 2016 eine Resolution zur Anerkennung des Völkermordes. Den Antrag dazu hatten Union, SPD und Grüne gemeinsam eingebracht. Er wurde mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung angenommen. Nicht anwesend bei der Abstimmung waren damals Kanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Folge war eine diplomatische Krise mit der Türkei.
Thematisiert wurde in der Resolution auch die Verantwortung des damaligen Deutschen Kaiserreichs als Verbündeten des Osmanischen Reichs. Denn aus Dokumenten wie einem Brief des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, aus dem Jahr 1915 geht hervor, dass Diplomaten und Missionare von den Verbrechen wussten. Deshalb heißt es in der Resolution: "Das Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignissen."
Amerikan schaut wieder hin
Für die Armenier im Land selbst und die weitaus größere und weltweit verstreut lebende Diaspora ist die Forderung nach Anerkennung als Völkermord ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität.
Allerdings erschwerten nationalistische und revisionistische Strömungen vor allem innerhalb der Diaspora sowie von ihnen beeinflusste Parteien wie "Erbe" und "Armenischen Revolutionäre Föderation" Bemühungen um eine Aussöhnung mit der Türkei unter Vermittlung der Schweiz vor zehn Jahren.
An deren Ende sollte die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und die Öffnung der armenisch-türkischen Grenze stehen. Doch trotz vieler Projekte für eine Annäherung zwischen den Menschen in der Türkei und Armenien scheiterten die diplomatischen Vermittlungen. Die Hardliner auf beiden Seiten gewannen - und die Beziehungen kühlten sich in den vergangenen Jahren ab.
Eine wichtige Rolle spielten die Spannungen zwischen Armenien und dessen östlichen Nachbarn Aserbaidschan, mit dem die Türkei kulturell, sprachlich und strategisch eng verbunden ist.
Während Armenien durch mangelnde Kompromissbereitschaft im Konflikt um die Region Bergkarabach einen Teil beitrug, beförderte die Türkei eine Eskalation durch Lieferung von Waffen und militärische Unterstützung Aserbaidschans.
Die gewaltsame Rückeroberung von armenisch kontrolliertem Gebiet um und in Bergkarabach durch aserbaidschanische Streitkräfte im Herbst 2020 kostete weit mehr als 6000 Menschen das Leben. Da Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew auch nach dem Waffenstillstand seine äußerst aggressive Rhetorik beibehält, sind die Ängste in Armenien vor dem Verlust auch von eigenem Territorium groß.
Eine Anerkennung des Völkermordes von 1915 in den USA ist für die Armenier ein wichtiger symbolischer Akt. Er zeigt auch, dass die USA wieder genauer darauf achten, was in der Region geschieht.