100. Jahrestag der Massaker Das armenische Trauma
Der Massenmord an den Armeniern gehört zu den dunkelsten Kapiteln des Ersten Weltkriegs. 1,5 Millionen Menschen kamen damals ums Leben. tagesschau.de blickt zurück auf die Ereignisse von 1915 - und die dramatischen Folgen, die bis heute spürbar sind.
Von Anna Grabenströer und Susanne Bründel
24. April 1915: Die Vertreibung beginnt
Anfang des 20. Jahrhunderts leben im Osmanischen Reich - dem Vorläuferstaat der Türkei - mehr als zwei Millionen Armenier: Eine christliche Minderheit in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft. Immer wieder sind die Armenier Ziel von Übergriffen.
1908 übernehmen die Jungtürken nach einer Revolte die Macht im Osmanischen Reich. Sie sehen das türkische Volk als Einheit und haben die Vision eines homogenen Nationalstaates. Minderheiten wie die Armenier werden zunehmend als Fremde und innere Feinde betrachtet.
In den Wirren des Ersten Weltkriegs wirft die muslimische Regierung den armenischen Christen vor, sie würden mit dem christlichen Kriegsgegner Russland kollaborieren. Ein kleiner Aufstand der armenischen Bevölkerung in Van, im Osten des Landes, dient als Legitimation für eine breit angelegte Aktion der muslimischen Regierung. In der Nacht des 24. April 1915 werden mehr als 200 armenische Intellektuelle in Konstantinopel - dem heutigen Istanbul - verhaftet. Es ist der Beginn von Vertreibungen und Massakern.
Massaker und Deportationen
In der Folge kommt es landesweit zu Massakern an der armenischen Bevölkerung. Häufig werden die Männer in den Dörfern von ihren Frauen und Kindern getrennt, entführt und exekutiert. Überlebende werden unter dem Vorwand der Umsiedlung auf Todesmärsche Richtung nordsyrische Wüste und Mesopotamien geschickt. Viele überleben die Strapazen nicht oder sterben in Lagern an Hunger, Durst, Erschöpfung und Krankheiten. Schätzungen zufolge kommen bis zu 1,5 Millionen Armenier ums Leben.
Besuch in Jerewan: Gedenkstätte für 1,5 Millionen Opfer
Debatte über den Begriff "Völkermord"
Armenien - seit 1991 ein unabhängiger Staat - fordert seit Langem eine Anerkennung der Gräueltaten als Völkermord.
Der Begriff Völkermord ist in der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" der Vereinten Nationen definiert. Sie wurde am 9. Dezember 1948 beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Bis heute haben 146 Staaten die Konvention ratifiziert. Völkermord ist dort definiert als "Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Diesen Vorsatz sieht eine Mehrheit von Wissenschaftlern bei den Verbrechen an den Armeniern durch historische Quellen dokumentiert.
Die Haltung der Türkei
Bis heute weigert sich die Türkei, den Massenmord als Völkermord anzuerkennen. Es habe zwar Hunderttausende Tote geben, diese seien aber Opfer von Bürgerkrieg und Unruhen gewesen, nach dem Aufstand der Armenier. Eine vorsätzliche und systematische Vernichtung der Minderheit habe es nicht gegeben, so die offizielle Haltung.
Leben im Land der Täter
Knapp 100.000 Armenier leben heute in der Türkei - Millionen waren es noch vor 100 Jahren. Sichtbar wird armenisches Leben hauptsächlich in Istanbul - weit weg von den ursprünglichen Siedlungsgebieten. Michael Schramm hat einige Armenier getroffen - wie den Musiker Stepan Ilhan, dessen Vorfahren zwangskonvertiert wurden. Als Armenier lebe er nur "nach Innen", im Kreis der Familie, sagt er. Oder Familie Balikci, deren einziger Sohn durch die Schüsse eines türkischen Nationalisten starb. Auch nach vier Jahren kämpfen die Eltern um die Aufarbeitung der Tat.
Wie andere Staaten mit dem Massenmord umgehen
Mehrere Staaten haben den Massenmord inzwischen als Genozid anerkannt. Dazu gehören Frankreich, die Schweiz und die Niederlande. Das Europäische Parlament war 1987 nach eigenen Angaben die erste größere internationale Organisation, die die Ereignisse im Jahr 1915 als Völkermord bezeichnete. Erst kürzlich verurteilte auch Papst Franziskus das Verbrechen als "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts".
Bundesregierung: Das Wort "Völkermord" soll doch fallen
Die Bundesregierung vermied bisher die Bewertung als Völkermord und sprach von Massakern und Vertreibung. SPD und Union brachten nun aber den Begriff "Völkermord" mit den Armeniern in Verbindung. Sie einigten sich auf die Formulierung: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist."
Die Rolle Deutschlands im Jahr 1915
Deutschlands Rolle 1915 war unrühmlich: Das Kaiserreich duldete die Verfolgung der Armenier durch ihren Verbündeten stillschweigend. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg definierte die deutsche Haltung damals so:
Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.