Genozid-Gedenken in Armenien Gefangen in der Vergangenheit
Seit Jahrzehnten kämpfen Armenien und die weltweit verstreute armenische Diaspora um Anerkennung ihrer Leiden im Osmanischen Reich. Aber die Konzentration auf die Vergangenheit verstellt den Blick für die aktuellen Probleme, um die sich vor allem junge Armenier sorgen.
Von Silvia Stöber, tagesschau.de
Armenien, das ist nicht nur die kleine Republik im Südkaukasus, es ist auch die Diaspora, die sich in aller Welt niederließ, nach der Flucht vor den Gräueltaten im Osmanischen Reich oder später auch auf der Suche nach Arbeit. Nicht nur Sprache, Kultur und der christliche Glaube hielten die armenischen Gemeinden über Jahrzehnte zusammen. Es war vor allem der Wille, Anerkennung zu finden für Leid und Tod im Osmanischen Reich.
Politisch sehr aktiv ist die armenische Diaspora beispielsweise in Frankreich und den USA. Die Organisationen "Armenian Assembly of America" und "Armenian National Comittee of America" setzen sich für die Anerkennung des Völkermordes 1915, aber auch für finanzielle Unterstützung Armeniens und weniger US-Kooperation mit dem NATO-Partner Türkei ein.
In Armenien selbst finanzieren Diaspora-Organisationen Krankenhäuser und Infrastruktur-Projekte. Viel Geld fließt nach Berg-Karabach. Die Region gehört völkerrechtlich zum östlichen Nachbarn Aserbaidschan, das politisch, kulturell, religiös und sprachlich eng mit der Türkei verbunden ist. In Berg-Karabach siedelten überwiegend Armenier, es ist seit einem Krieg Anfang der 90er-Jahre armenisch besetzt. Armenier in Berg-Karabach berichten, dass sie Unterstützung für Sozial- und Mietkosten erhalten, um in der isolierten Region zu bleiben.
Armenien ist ein weitgehend karges, steiniges und spärlich bewohntes Land im Südkaukasus. Es ist so groß wie Belgien, hat aber weniger Einwohner als Berlin: Schätzungen gehen von weniger als zwei bis zu drei Millionen Menschen aus.
Sehr viel mehr Armenier leben in aller Welt verstreut. Genaue Angaben sind schwierig. Aber man kann davon ausgehen, dass es sieben bis zehn Millionen sind - mehr als drei Mal so viele wie in Armenien selbst.
Aufgrund wirtschaftlich und sozial schwieriger Bedingungen, von Fremdherrschaft, vor allem aber wegen der gezielten und massenhaften Verfolgung im Osmanischen Reich flohen Hunderttausende Armenier in die Ferne. Sie siedelten sich in Syrien, dem Libanon, in Europa, Nord- und Südamerika an.
Als Handwerker und Geschäftsleute geschätzt, konnten sie dennoch nicht überall auf Dauer in Frieden leben. So flohen viele Armenier in den siebziger Jahren wegen des Bürgerkriegs aus dem Libanon. Als 2012 der Krieg das syrische Aleppo erreichte, mussten sie auch dieses Zuhause verlassen
Kritik an Diaspora-Organisationen
Die von der Diaspora beeinflussten Parteien "Erbe" und "Armenische Revolutionäre Föderation" (ARF) forcierten nationalistische und revisionistische Töne in der armenischen Politik. Als sich Diplomaten Armeniens und der Türkei 2009 unter internationaler Vermittlung um eine Annäherung bemühten, begleiteten große Teile der Diaspora den Prozess mit Skepsis, Ablehnung und Forderungen nach Rückgabe ehemals armenischen Territoriums in der Türkei.
Experten wie Arman Grigoryan von der Lehigh University in den USA kritisieren solche radikalen und letztlich aussichtslosen Forderungen. In der "Washington Post" plädierte er, die Diaspora solle auch im Sicherheitsinteresse der Menschen in Armenien ihre aggressive Haltung gegenüber der Türkei aufgeben.
Von den Nachbarn isoliert
Die verschlossenen Grenzen zur Türkei und der Konflikt mit Aserbaidschan um Berg-Karabach hindern Armenien in seiner Entwicklung und halten es wirtschaftlich und militärisch in der Abhängigkeit von Russland.
Russische Grenzschützer stehen an den armenischen Grenzen zur Türkei und dem Iran; mehr als 3000 russische Soldaten in der Militärbasis Gjumri bilden eine Schutzmacht vor Angriffen.
Zudem ist die armenische Infrastruktur überwiegend in den Händen russischer Firmen. Hunderttausende Armenier arbeiten in Russland. So wie sie zunächst vom Aufschwung dort profitierten, leidet Armenien jetzt in der Krise unter den fehlenden Geldsendungen aus Russland, die bislang 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprachen.
Dies verschärft die ohnehin schwierige Lage im Land, dessen Wirtschaftszweige einheimische Oligarchen unter sich aufgeteilt haben. Es herrscht Misstrauen gegenüber der Politik und öffentlichen Institutionen, die in den Augen vieler Bürger nicht im Interesse der Bevölkerung handeln. Zudem ist die Gesellschaft von erzkonservativen und traditionellen Vorstellungen geprägt. Laut einer Studie der Internationalen Gesellschaft für Migration verließen zwischen 2007 und 2013 jährlich bis zu 35.000 Menschen das Land.
Kampf um Akzeptanz in Armenien
Doch zogen in den vergangenen Jahren auch Diaspora-Armenier in die Heimat ihrer Vorfahren, und setzten sich für Demokratie und Menschenrechte ein. Zunächst mussten sie darum kämpfen, in der recht verschlossenen Gesellschaft Armeniens Akzeptanz zu finden. Wer wie Lara Aharonian, Direktorin des Women's Resource Center in Jerewan, zudem in der Diaspora für Unterstützung für die Durchsetzung von Frauen- und Minderheiten wirbt, muss auch dort mit Widerstand rechnen. So gebe es im Libanon, aber auch in den USA Gemeinden, die ein überkommenes und unrealistisches Bild der Heimat ihrer Vorfahren pflegten, erzählte Aharonian. Spreche man aktuelle Probleme in Armenien an, werde dies als Beschädigung des Ansehens der alten Heimat betrachtet.
Trotz Widerstandes etablierten sich in den vergangenen Jahren Diaspora-Armenier in Jerewan und brachten frischen Wind in die Hauptstadt. Zu ihnen gehört Silvia Davidian, die mit ihrem Mann 2010 eine Bar eröffnete. Sie wuchs im Libanon auf, ihre Vorfahren waren aus Ostanatolien geflohen. Vor wenigen Monaten lernte Davidian in Dubai eine Türkin kennen und erzählte von ihren Vorfahren. Die türkische Bekannte sei zunächst überrascht darüber gewesen, habe sich dann aber mit der Geschichte befasst und sich schließlich bei Davidian entschuldigt. "Mehr als eine Entschuldigung wünsche ich mir nicht", sagt Davidian. Ansprüche auf verloren Besitz wolle sie wie viele andere nicht stellen. Ohnehin fragen sich junge Armenier, wozu man Land zurückfordern solle, wo doch das derzeitige armenische Territorium schon spärlich bewohnt ist.
Was junge Menschen in Armenien umtreibt, wurde auch deutlich, als vor wenigen Tagen Kim Kardashian mit ihrer Familie Jerewan besuchte. Das amerikanische Glamour-Girl mit armenischen Wurzeln und ihr Mann, der US-Rapper Kanye West, lockerten mit ihrer unpolitischen Art die düstere Stimmung vor dem 100. Jahrestag des Völkermordes auf. Als Kanye West spät in der Nacht in Jerewans Stadtzentrum spontan ein Konzert gab, kamen auch viele, die sich weder für Rap-Musik, noch für Kardashian begeistern können. Unter ihnen war die Menschenrechtsaktivistin Lena Nasarjan. "Er hat uns gezeigt, dass wir ein Teil der Welt sind", erklärt sie ihr Gefühl an jenem Abend.